Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur (KJL ... - hannahdenker.de
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in „Dornröschen“ wer<strong>de</strong>n erzältechnisch aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Außensicht beschrieben, während in „Sonne,<br />
Mond <strong>und</strong> Talia“ auch die Innensicht verwen<strong>de</strong>t wird. So heißt es beispielsweise: „Dort aber<br />
dachte er je<strong><strong>de</strong>r</strong>zeit an Talia <strong>und</strong> seine Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> (…)“ (Basile 1991: 59).<br />
Auf <strong>de</strong>n ersten Blick scheint auch Basiles (1991) „Sonne, Mond <strong>und</strong> Talia“ eine klare<br />
Gegensätzlichkeit aufzuzeigen: Es zeigt sich Armut vs. Reichtum, weiblich vs. männlich,<br />
herzengut vs. gierig/ bösartig, Ehrlichkeit vs. Lüge. Aber die Gegensätze sind nicht ganz so<br />
ein<strong>de</strong>utig festgelegt wie in „Dornröschen“. Es zeigen sich latente Unstimmigkeit <strong>und</strong><br />
Entwicklungsprozesse: Der König han<strong>de</strong>lt unbekümmert o<strong><strong>de</strong>r</strong> sogar egoistisch, in<strong>de</strong>m er eine<br />
Schändung vornimmt <strong>und</strong> das Opfer dann gedankenlos sich selbst überlässt. Aber nach einer<br />
Weile erinnert er sich ihrer <strong>und</strong> kehrt beichtend zurück. Darin kann man zumin<strong>de</strong>st eine<br />
teilweise Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong> Figur sehen. Der Gegensatz von Arm <strong>und</strong> Reich spielt eigentlich<br />
keine funktionstragen<strong>de</strong> Rolle, <strong>de</strong>nn sowohl Geheimschreiber als auch Koch gehören einer<br />
unteren Schicht an, verhalten sich aber gänzlich oppositionell: Während <strong><strong>de</strong>r</strong> eine aus Gier <strong>und</strong><br />
Furcht zum Verräter wird (<strong>und</strong> für die Tat bestraft wird), wi<strong><strong>de</strong>r</strong>setzt sich <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong>de</strong>n<br />
Befehlen <strong><strong>de</strong>r</strong> Herrin. Auch die Rollenstereotype von männlich <strong>und</strong> weiblich, die in<br />
Dornröschen sehr <strong>de</strong>utlich hervortreten, sind in „Sonne, Mond <strong>und</strong> Talia“ nicht ganz so<br />
ausgeprägt: zwar ist auch Talia zunächst nur weiblich-passives Opfer, aber sie tritt doch für<br />
sich selbst ein, als sie sich durch eine List männliche Hilfe holt. In gewissem Sinne ist sie also<br />
eine aktivere Figur, die ihr Schicksal – zumin<strong>de</strong>st im Vergleich zu Dornröschen – selber in<br />
die Hand nimmt. Trotz dieser Differenzierungen bleiben die Figuren in „Sonne, Mond <strong>und</strong><br />
Talia“ aber auch statisch im oben genannten Sinne <strong>und</strong> sind – mit <strong>de</strong>n genannten Ausnahmen<br />
– eindimensional. Dies wird vielleicht am <strong>de</strong>utlichsten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Figur <strong><strong>de</strong>r</strong> Gemahlin, die sich<br />
von Anbeginn ihres Auftretens als neidisch, eifersüchtig <strong>und</strong> missgünstig bis hin zur<br />
Gewalttätigkeit präsentiert <strong>und</strong> mit genau diesen Eigenschaften ‚ihr eigenes Grab schaufelt’.<br />
Ein kurzer Blick sei noch <strong>de</strong>n Räumen in <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n <strong>Geschichte</strong>n gewidmet: In<br />
„Dornröschen“ spielt <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegensatz von Hof <strong>und</strong> weiterer Welt keine sinnhaft-be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />
Rolle, in „Sonne, Mond <strong>und</strong> Talia“ hingegen scheint die Differenz zwischen Draußen <strong>und</strong><br />
Drinnen zumin<strong>de</strong>st einen symbolischen Charakter zur Unterstreichung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefühle zu haben:<br />
Zunächst locken Verführungen die junge Frau hinaus in das feindliche Leben <strong>und</strong> führen so<br />
zur Erfüllung <strong><strong>de</strong>r</strong> Weissagungen, dann wird die Trauer <strong>und</strong> Verzweifelung <strong><strong>de</strong>r</strong> Vaters<br />
<strong>de</strong>utlich, in<strong>de</strong>m er die to<strong>de</strong>sähnlich-schlafen<strong>de</strong> Tochter in das Herrenhaus zurückholt <strong>und</strong><br />
dabei „alle Türen“ (Baile 1991: 57) verschließt. Diese verriegelten Türen könnten Trauer <strong>und</strong><br />
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