Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur (KJL ... - hannahdenker.de

Zeit für kreative Spiele, Zeit einander wirklich zuzuhören – ohne vorher die Methoden der
„Gesprächspsychotherapie“ technisch erlernt zu haben (vgl. Biermann-Ratjen et. al. 2003).
„Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den
nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. (…) Dann
macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut“ (Ende 2008: 37).
An dieser Stelle stockte Hannah. In ihr entstand das Bild einer endlosen Straße, der Straße
ihres Lebens, dass grau und ohne innere Freude bestritten würde. Momo ist so ungezwungen,
so natürlich. Das Motiv des fremdes Kindes hatte das jugendliche Mädchen an etwas erinnert,
dass sie in ihrem Streben nach Anerkennung und externer Belohnung ganz vergessen hatte:
Freude! Was aber war es am Motiv des fremden Kindes, das Hannah langsam und
unaufhaltsam in seinen Bann zog? Die Figur Momo bot Hannah Anhaltspunkte für eine
Distanz zu gesellschaftlichen Normen und Werten – die alt 68er hätten ihre wahre Freude
daran gehabt. Legt das Geschlecht fest, wer man ist? Nein, Momo ist nur „vermutlich“ (Ende
2008: 8) ein Mädchen. Ist man nur das Produkt der Erziehung durch seine Eltern? Momo ist
ungebunden und elternlos. Sie ist frei, sich zu kleiden, wie sie will und für praktisch hält.
Muss Momo Leistung erbringen, um Anerkennung zu finden? Nein, Momo hat nur eine
besondere Fähigkeit und die liegt in ihrem Herzen: sie kann zuhören.
Die klassischen Elemente des fremden Kindes (undefinierte Geschlechtlichkeit, unbekannte
Herkunft, auffälliges Erscheinungsbild und besondere Fähigkeiten (vgl. Sullivan (2007: 25)),
dessen Motiv seit E.T.A. Hoffmanns Werk die Kinder- und Jugendliteratur beeinflusst, zeigte
seine Wirkung. Hannah erkannte sich selbst quasi im Spiegel der oppositionellen Figur. Hätte
sie damals auch noch die zynischen Worte des auktorialen Erzählers in E.T.A. Hoffmanns das
„Fremde Kind“ gelesen, der vom „blaßgelben Gesicht“ (Hoffmann 2006: 2) der Städtekinder
spricht und den Vergleich von wilder, freier Natur gegenüber trägem wissenschaftlichen
Wissen erkannt, dann hätte sie vielleicht nicht getan, was sie tat… Aber wir wollen nicht
vorgreifen.
Hannah erlebte nun gemeinsam mit Momo den Kampf gegen die Zeit-Diebe und bewunderte
die Fähigkeit der kleinen Heldin, die Musik der Zeit zu hören. Sie stieg mit ihr in die
magische „Wunderwelt“ (Tabbert 2005: 188) des Romans hinab und ließ sich von den
Motiven der sekundären Welt (ebd.) gefangennehmen. Dabei war ihr natürlich nicht bewusst,
25