DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks
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systematischen und auf Dauer angelegten<br />
Politik der Einschüchterung und Kontrolle,<br />
die das Geflecht des alltäglichen Lebens der<br />
Palästinenser zerstört. Jehuda beschreibt seine<br />
Lernkurve so: »Wir waren mit der Haltung<br />
in die Armee gegangen, dass wir es<br />
besser machen wollten. Heute sehe ich das<br />
als Teil des Problems: die Idee, dass es eine<br />
menschliche, anständige, korrekte Besatzung<br />
geben kann, trägt dazu bei, dass alles<br />
immer so weitergeht.«<br />
Die Veröffentlichung der Zeugnisse hat<br />
Breaking the Silence zu einem führenden Akteur<br />
der israelischen Friedensbewegung gemacht.<br />
Gegenreaktionen konnten nicht ausbleiben.<br />
Regierungsnahe Leitartikler und<br />
Thinktanks versuchen die Gruppe als Antizionisten<br />
in Diensten des Auslands zu diskreditieren,<br />
als unpatriotische Linke. In Israel<br />
scheidet die Frage, ob man Besatzung und<br />
Siedlungspolitik kritisiert oder verteidigt,<br />
Links und Rechts. Und die Linken stehen<br />
zurzeit auf verlorenem Posten. Es gibt keine<br />
Friedensverhandlungen mehr. Die Zweistaatenlösung<br />
ist zur leeren Phrase geworden.<br />
Man hat beiderseits den Glauben an einen<br />
Frieden durch Verhandlungen verloren. Die<br />
Palästinenser haben erleben müssen, dass die<br />
Siedlungen in den letzten 17 Jahren – also seit<br />
42<br />
»Es gibt keine Heiligkeit in einer besetzten Stadt« steht auf dem T-Shirt (rechts),<br />
das gilt auch für Hebron, das einem Geisterort gleicht<br />
dem Oslo-Abkommen, das die Rückabwicklung<br />
der Besatzung vorsah – um das Zweieinhalbfache<br />
gewachsen sind, auf nun fast<br />
300 000 Bewohner. Die Israelis hingegen haben<br />
zweimal erlebt, dass Rückzüge der Armee<br />
– 2000 aus dem Libanon und 2005 aus Gaza<br />
– mit einem Hagel von Raketen durch Hisbollah<br />
und Hamas beantwortet wurden.<br />
Was nutzt es da, sich den unangenehmen<br />
Zeugnissen der Exsoldaten auszusetzen?<br />
Die »besetzten Gebiete« verschwinden mittlerweile<br />
fast vollständig hinter Mauern und<br />
Zäunen, die Terroristen draußen halten und<br />
peinliche Anblicke der palästinensischen Realität<br />
vermeiden helfen. Jehuda versucht darum<br />
neuerdings, möglichst viele Menschen in<br />
die besetzten Gebiete zu bringen, damit sie<br />
mit eigenen Augen sehen können, was Besatzung<br />
bedeutet. Breaking the Silence organisiert<br />
Touren nach He bron, die man auf der<br />
Web site buchen kann. An die 10 000 Teilnehmer<br />
waren schon dabei, ein Drittel von<br />
ihnen junge Israelis vor der Einberufung.<br />
Der kritische Okkupationstourismus ist<br />
der Regierung nicht genehm. Anfang des Jahres<br />
wurde eine von Jehudas He bron-Touren<br />
mit Schulkindern polizeilich verboten. Der<br />
Erziehungsminister erklärte, er wolle mit eigens<br />
organisierten Touren dafür sorgen, dass<br />
alle Schulkinder nach He bron kommen, um<br />
ihre Verbundenheit mit der »ewigen Wiege<br />
der jüdischen Nation« zu stärken. Die Kinder<br />
werden viel über Abraham und Rachel hören,<br />
aber wenig über Extremisten wie Mosche Lewinger<br />
und Baruch Goldstein.<br />
Die Knesset berät eine Gesetzesvorlage,<br />
die Gruppen wie Breaking the Silence von<br />
ausländischen Finanzierungsquellen abschneiden<br />
soll. Etwa die Hälfte des Etats von<br />
umgerechnet 650 000 Euro erhalten die Aktivisten<br />
von europäischen Gebern – darunter<br />
kirchliche und entwicklungspolitische Stiftungen<br />
wie Misereor, aber auch die britische<br />
Botschaft und die EU-Delegation. Israels<br />
Regierung betrachtet diese Unterstützung<br />
als Einmischung in die inneren Angelegenheiten<br />
des Landes.<br />
Jehuda nimmt das sportlich: »Irgendwas<br />
machen wir richtig, wenn die so auf uns losgehen.«<br />
Dabei sind die Veteranen mit ihrer<br />
schonungslosen Selbst erfor schung die beste<br />
Werbung, die man sich für Israel und seine<br />
Armee vorstellen kann. Welches andere Land<br />
im Dauerkrieg mit seiner Umgebung leistet<br />
sich solch schneidende Selbstkritik? Undenkbar<br />
ist es nicht, dass man eines Tages in Jehudas<br />
und Danas Eigensinn eine andere Form<br />
von Patriotismus erkennt. zeitmagazin<br />
nr . <strong>39</strong>