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DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

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FEUILLETON<br />

Es ist so ruhig, als hätte einer den<br />

Soundtrack der Großstadt auf null<br />

gedreht. Bedford Square im Londoner<br />

Stadtteil Bloomsbury atmet<br />

die Gelassenheit einer entspannten<br />

Epoche. Schnurgerade Häuserreihen<br />

um einen Park. Türbögen in<br />

Rot-Weiß. Man stellt sich vor, wie Virginia Woolf,<br />

vom Tavis tock Square her kommend, ihrem Spaniel<br />

nachhechelte in Richtung Grün, aus dessen Hecken<br />

sich jetzt allerdings erstaunlich viele Männer lösen.<br />

Es kommen: einer von links, zwei von rechts, einer<br />

von geradeaus, es sind pralle Typen in schwarzen<br />

Anzügen, verkabelte fleischige Ohren. Security!<br />

Ich versuche einen Scherz und sage: »Ich habe<br />

hier ein Date mit Salman Rushdie.« Sie fragen, wer<br />

Salman Rushdie sei. Ich frage sie, wer sie sind, und<br />

sie antworten, sie seien die Security zum Schutz der<br />

Studenten, die heute im Park Examen feiern.<br />

Studenten! Ob das eine gute, eine schlechte<br />

Nachricht ist? Dass der Autor Salman Rushdie, auf<br />

dessen Kopf der islamische Mullah Ajatollah Chomeini<br />

am 14. Februar 1989 eine Million Dollar ausgesetzt<br />

hatte, dessen Name in Schockwellen um die<br />

Welt lief, der vom Special Service des Vereinigten<br />

Königreiches über zehn Jahre lang von Versteck zu<br />

Versteck gebracht, vor Mörderkommandos geschützt<br />

werden musste, dass Salman Rushdie einem<br />

Londoner Security Service heute ein Unbekannter<br />

ist? Und Studenten der Security bedürfen?<br />

Wir sind mit Salman Rushdie in seiner Agentur<br />

verabredet. Zu Wylie hatte Rushdie sich geflüchtet,<br />

als der Boden unter seinen Füßen zu beben begann,<br />

als er hörte, was der Ajatollah Chomeini sagte:<br />

Ich informiere das stolze muslimische Volk der<br />

Welt, dass der Autor des Buches »Die satanischen Verse«,<br />

welches sich gegen den Islam, den Propheten und<br />

den Koran richtet, sowie alle, die zu seiner Publi kation<br />

beigetragen haben, zum Tode verurteilt sind. Ich<br />

bitte alle Muslime, die Betroffenen hinzurichten ...<br />

Heute sitzt der Autor bei Wylie auf der Terrasse,<br />

ein kleiner, molliger Herr. Er hat seine Autobiografie<br />

geschrieben, eine 700 Seiten lange Aufzählung<br />

der Horrorszenarien seiner Zeit im Untergrund.<br />

Alles überstanden! Besser gesagt: überlebt. Es ist ein<br />

sonniger Tag. In Pakistan wurde ein 14-jähriges<br />

Mädchen, das der Beleidigung des Korans angeklagt<br />

war, aus dem Gefängnis entlassen. Nicht so gut die<br />

Nachricht, dass, weil die iranische Schauspielerin<br />

Gol shif teh Farhani in einem Künstlervideo eine<br />

Brust entblößt hat mit dem Satz: »Ich werde deine<br />

Träume nähren«, ihr Vater Drohanrufe erhält, jemand<br />

schrie ins Telefon, man werde ihr die Brüste<br />

abschneiden und ihm auf einem Tablett servieren.<br />

Wir wissen noch nicht, dass es eine Woche vor dem<br />

Tag ist, an dem ein Mob die amerikanische Botschaft<br />

in Bengasi stürmt und den Botschafter tötet,<br />

die deutsche Botschaft in Khartoum brennt und in<br />

Tripolis Kentucky Fried Chicken. Unruhen in Irak,<br />

Iran, Katar, Kaschmir und Ägypten, wegen eines<br />

Films, der den Propheten Mohammed verspottet.<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Die Fatwa gab Ihrem Leben eine völlig<br />

neue Richtung. Wann haben Sie das verstanden?<br />

Salman Rushdie: Vielleicht eine Woche nachdem es<br />

begann. Als die diplomatischen Bemühungen gescheitert<br />

waren. Es gab diesen Moment, in dem ein<br />

Senior Police Officer sagte: Hören Sie, sieht so aus,<br />

als könnte es auf unbestimmte Zeit so bleiben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Auf unbestimmte Zeit ein Fliehender. Sie,<br />

der Star des literarischen London, Gewinner des<br />

Booker Prize für Midnight’s Children, verjagt aus<br />

dem eigenen Leben. Was waren Ihre Gefühle?<br />

Rushdie: Furchtbar. In den ersten zwei Jahren war<br />

ich in Gefahr, mich zu verlieren. Eine Spirale in die<br />

Depression. Nicht schreiben können, nicht arbeiten,<br />

können nicht klar denken können. Sie betonten,<br />

ich würde nicht mehr nach Hause zurück<br />

können. Ich hatte ein wunderbares Haus, ich hätte<br />

darauf bestehen sollen, dort zu bleiben.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie verloren Ihr Haus, Ihre Ehe ging zu<br />

Bruch, Ihr Name war nur noch ein Symbol, Sie<br />

brauchten einen neuen. Sie wählten: Joseph Anton.<br />

Rushdie: Joseph wie Joseph Conrad. Anton wie<br />

Anton Tschechow.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wir alle lernten, dass eine heilige Fatwa nie<br />

mehr zurückgerufen werden kann.<br />

Rushdie: Die theologische Komponente ist mir<br />

egal. Entscheidend war, dass es um einen staatlich<br />

unterstützten Terrorismus ging. Die iranische Regierung<br />

hatte Killer. Mir wurde klargemacht, dass<br />

mir der Schutz des britischen Staates nur zuteil<br />

würde, weil es sich um einen Angriff eines Staates<br />

auf einen britischen Bürger handelte.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die Fatwa veränderte auch Ihren hochgelobten<br />

Roman – in einen Stein des Anstoßes.<br />

Rushdie: Das passierte schon vor der Fatwa. Auf<br />

den Tag vier Wochen vorher, als das Buch in Bradford<br />

verbrannt wurde. Als ich das brennende Buch<br />

sah, verstand ich, dass das Buch sich in etwas anderes<br />

verwandelt hatte, in eine Ikone für Abscheu<br />

oder ein Objekt der Blasphemie oder etwas, das<br />

man unterstützen musste. Als ich das brennende<br />

Buch sah, passierte in mir etwas sehr Tiefgehendes.<br />

Was? Es machte mich sehr, sehr, sehr wütend.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ich erinnere mich an meine Lektüre des Buches,<br />

wundervoll. Ich habe oft schallend gelacht.<br />

Keine Kompromisse!<br />

Über zehn Jahre lang musste sich Salman Rushdie vor einer Fatwa verstecken. In seiner<br />

Autobiografi e erzählt er von seinem Leiden. SUSANNE MAYER hat den Autor besucht<br />

Rushdie: So etwas Schönes hat seit Langem niemand<br />

mehr über das Buch gesagt.<br />

Die Satanischen Verse sind ein Werk von 500 bis 700<br />

Seiten, je nach Druck. Neun Kapitel. Das Buch,<br />

dessen Verdammung erst später als Auftakt einer<br />

Zeitenwende verstanden wird, die auch zum 11.<br />

Sep tember führte, beginnt mit der Explosion eines<br />

Flugzeuges über London. Jumbo AI-420 bricht auf<br />

wie eine alte Zigarre. In dem Regen aus Getränketrolleys,<br />

Einreiseformularen, Pappbechern befinden<br />

sich Saladin Chamcha und Gibril Farishta, die kopfüber<br />

in London landen. Multiple Handlungsstränge<br />

überschneiden sich zu einer Textstruktur, in der sich<br />

religionsgeschichtliche, märchenhafte, auf Träumen<br />

basierende, ironische, burleske Passagen überlagern.<br />

Ein Ajatollah wird als zwanghafter Greis karikiert.<br />

Da ist ein Harem, in dem Damen unter den Namen<br />

der Frauen Mohammeds anschaffen. Und ein<br />

Traum, in dem der Offenbarung des Korans Satanische<br />

Verse untergejubelt werden. Wieder Nominierung<br />

für den Booker Prize!<br />

<strong>ZEIT</strong>: Dieses Buch war die Krönung Ihres Werkes.<br />

Rushdie: Ich bin ungeheuer stolz auf dieses Buch.<br />

Der Erfolg von Midnight’s Children und Shame<br />

hatte mir das Vertrauen gegeben, neues Terrain zu<br />

erobern, ich finde, das ist gelungen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Andere finden, es sei eine respektlose Ironisierung<br />

religiöser Themen. Andererseits: War Religion<br />

damals nicht – altmodisch?<br />

Rushdie: Genau so war es. Es war eine andere<br />

Welt. Der Libanon war eine offene säkulare Gesellschaft.<br />

Beirut nannte man das Paris des Ostens.<br />

Teheran und Bagdad waren kosmopolitische Städte.<br />

Religiösen Fanatismus kannte man nicht.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Eine Meinung, die sich als naiv erwies.<br />

Salman Rushdie<br />

Der Autor der »Satanischen Verse« wurde am<br />

19. Juni 1947 in die Familie eines wohlhabenden<br />

Geschäftsmanns in Bombay geboren. Mit 14 ging<br />

er auf die elitäre englische Privatschule Rugby. Dort<br />

machte er die Erfahrung von Anderssein und Ausgeschlossenwerden,<br />

die sich auch durch das Geschichtsstudium<br />

in Cambridge nicht verwischte.<br />

Rushdie: Als Fehler (lacht). Tatsächlich dachte die<br />

Generation der sechziger Jahre, Religion sei vorbei.<br />

Also, warum hätte man nicht respektlos sein dürfen?<br />

Als ich dieses Buch schrieb, hatte ich wirklich<br />

keine Vorstellung davon, dass ich meine Sicherheit<br />

riskierte. Ich zeigte das Manuskript einigen Freunden,<br />

unter ihnen Edward Said ...<br />

<strong>ZEIT</strong>: … dem Autor des Buches Orientalismus!<br />

Rushdie: Er sagte: Stell dich auf Krach ein.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Taten Sie das?<br />

Rushdie: Natürlich. Ich finde, dass ist genau das,<br />

was Bücher tun sollten – eine Debatte lostreten. Das<br />

ist so gut an Büchern, dass sie Gesellschaften oder<br />

Kulturen zwingen können, sich auf eine Unterhaltung<br />

einzulassen, die diese gerne vermeiden würden.<br />

Man streitet, und vielleicht hat jeder etwas gelernt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Eine sehr westliche Betrachtungsart. In Ägypten<br />

wurde der liberale Denker Nasr Hamid Abu<br />

Zaid zwangsgeschieden und ins Exil gejagt, weil er<br />

dachte, man könne sich über den Koran unterhalten<br />

wie über jeden anderen literarischen Text.<br />

Rushdie: Ich bin in Indien aufgewachsen, in einer<br />

muslimischen Familie. Indische Muslime waren<br />

immer säkularisiert. Als Gandhi und Nehru über<br />

die indische Unabhängigkeit nachdachten, bestanden<br />

sie darauf, dass Indien ein säkularer Staat sein<br />

müsste. In Indien gibt es eine 80-prozentige Hindumajorität;<br />

wäre die Verfassung nicht säkular,<br />

hätten Hindus immer die Macht. Die muslimische<br />

Minderheit, immer noch 140 Millionen Menschen,<br />

weiß, dass ein säkularer Staat ihr bester<br />

Schutz ist. Der Islam, der sich im 20. Jahrhundert<br />

in den arabischen Ländern entwickelte, ist etwas<br />

anderes, etwas Härteres. Ich bin in Indien gebo<br />

ren, einer freien Gesellschaft, und zog og nach<br />

England, in eine andere freie Gesellschaft, lschaft,<br />

ich hatte damit keine Erfahrung.<br />

Nach Wanderjahren als Schauspieler<br />

und Werbetexter fand Rushdie zum<br />

Schreiben. Schon sein zweites Buch<br />

»Midnight’s Children« war ein großer<br />

Erfolg. Rushdie war viermal verheiratet<br />

und hat zwei Söhne, er lebt<br />

heute in New York.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie sind der globale flexible Bürger, an dem<br />

sich ein globaler Streit entzündete.<br />

Rushdie: Es war der Beginn von etwas. Wir leben<br />

in einer Gesellschaft, deren Plage die Rückkehr der<br />

Religionen ist. Nicht nur des Islams. In Amerika<br />

sehen Sie die Erstarkung der christlichen Rechten,<br />

in Indien eine Erhebung des rechten Hinduismus.<br />

Pakistan ist heute ein dunkler Ort.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Ihre Freunde haben sich um sie gestellt –<br />

Martin Amis, Ian McEwan, Julian Barnes, Susan<br />

Sontag. Solidaritätsadressen, Veranstaltungen, sie<br />

gaben Ihnen Unterschlupf. Ob Ihre Bedrohung<br />

auch das Schreiben dieser Autoren beeinflusst hat?<br />

Rushdie: Nein. Aber sie formte unsere Beziehungen<br />

zueinander. Ian McEwan sagte einmal, die Fatwa<br />

habe uns als Generation zusammengebracht, sie<br />

prägte uns, hier, zu einem historischen Zeitpunkt.<br />

Auch anderswo hieß es Farbe bekennen. Die Fatwa<br />

erklärte zum Kriegsgebiet: das Verlagswesen, die<br />

Lektoren, die Übersetzer, Buchhändler; alle, die das<br />

Buch verbreiten würden, waren der Fatwa unterworfen.<br />

In englischen Buchhandlungen detonierten<br />

Bomben. In Amerika lebte der Verleger Peter Mayer<br />

als Sicherheitsgefangener in seiner Wohnung, eine<br />

traumatische Erfahrung, erzählt sein Freund, der Verleger<br />

Helge Malchow, dessen Verlag Kiepenheuer &<br />

Witsch die Satanischen Verse auf der Frankfurter<br />

Buchmesse 1988 gekauft hatte mit der Auflage, das<br />

Buch im Herbst auf Deutsch zu veröffentlichen.<br />

Reinhold Neven DuMont, damals Eigentümer und<br />

Verleger, erinnert sich, wie er in seinem Verlag von<br />

einer Frau mit schreckgeweiteten Augen empfangen<br />

wird: »Man Man hat Sie S zum Tode verurteilt!« Die Hek-<br />

tik! Straßensperrung! Straßens Einbau von Pollern, um<br />

das Heranf Heranfahren von mit Sprengstoff belade-<br />

nen Autos zu verhindern. Fällen eines Bau-<br />

Salman Sa Rushdie:<br />

JJoseph<br />

Anton.<br />

Die Autobiografie<br />

Aus dem Englischen von<br />

Bernhard Robben und<br />

Verena von Koskull;<br />

Ve Verlag C. Bertelsmann,<br />

Mü MMünchen<br />

<strong>2012</strong>; 720 S., 24,99 €<br />

Fotos: Garry Clarkson/Picture Press (o.); Chris Young/The Canadian Press/ddp/AP<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 45<br />

Das Buch »Die satanischen Verse«<br />

wird am 14. Januar 1989 in Bradford<br />

von Muslimen verbrannt<br />

mes, von dem aus man den Verlag hätten beschießen<br />

können. Die Übersetzerin der Satanischen Verse wirft<br />

hin. Was tun? Der Verlag zögert. Dann kommt es zu<br />

einer beispiellosen Solidarisierung, zu einem neuen<br />

Verlag, genannt »Artikel 19«, in Anspielung auf die<br />

Erklärung der Menschenrechte zur freien Meinungsäußerung.<br />

Das Verzeichnis der Unterstützer ist zwei<br />

Seiten lang. Herbert Achternbusch und Jürgen Becker<br />

und Lew Kopelew, Thomas Kling, Katja Lange-<br />

Müller, die Verlage Haffmans, Rowohlt, Rotbuch,<br />

Wagenbach, Suhrkamp und so weiter. Es ist ein heroischer<br />

Akt. Es werden neue Übersetzer gefunden, die<br />

undercover arbeiten. Nicht ohne Bangen. Der dänische<br />

Übersetzer wird angegriffen, der japanische von einem<br />

Messerstecher hingerichtet. Einer der deutschen Übersetzer<br />

erinnert sich, wie er in Arbeitspausen auf seinem<br />

Balkon rauchte und sich dabei beobachtete, wie er die<br />

Straße beobachtete. Sollte er das Kind noch in den<br />

Kindergarten bringen? War es sicher, jeden Tag um<br />

acht das Haus zu verlassen?<br />

Von solchen Ängsten anderer Menschen oder<br />

ihrem Mut findet sich in Rushdies Buch wenig. Da<br />

ist ein gereizter Unterton. Die Beschützer werden ihm<br />

zu Freiheitsberaubern. Viele kommen schlecht weg,<br />

Mitschüler in Rugby, Kommilitonen in Cambridge,<br />

Engländer überhaupt, gar nicht zu reden von Ehefrauen<br />

(drei). So gesehen, ist die oft sehr intime Erzählung<br />

auch ein Dokument des Unbewältigten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Man hat Sie angegriffen. Als eitel, provokant,<br />

diabolisch – hat es Ihre Sicht auf sich selbst berührt?<br />

Rushdie: Nein, es änderte meine Sicht auf einige<br />

Leute. Wenn ich etwas sagen kann, dann, dass ich<br />

weiß, wer ich bin. Aber die Attacken waren effektvoll,<br />

noch Jahre später würden die Leute sagten:<br />

Oh, Sie sind tatsächlich ganz nett.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Die Diskussion polarisierte sich schnell. Ihren<br />

Unterstützern wurde ein fundamentalistischer<br />

Menschenrechtsbegriff vorgeworfen.<br />

Rushdie: Die religiösen Faschisten behaupteten,<br />

die Verteidiger des Rechts auf freie Meinungsäußerung<br />

seien absolutistisch. Aber Liberale verlangen<br />

nicht, dass Menschen, die anderer Meinung sind,<br />

umgebracht werden. Ich hatte den Impuls, meinen<br />

Text zu verteidigen. Ich dachte, dann würden die<br />

Mullahs sich an den Kopf schlagen und sagen:<br />

Aber natürlich. Sorry. Alles okay. Das war naiv.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Es ging nicht um Argumente. Verstehen Sie,<br />

warum Sie die Gefühle von Leuten verletzten?<br />

Rushdie: Es ist mir egal, warum sie sich verletzt<br />

fühlten. Um von einem 600-Seiten-Buch verletzt<br />

zu sein, muss man viel Arbeit investieren. Es ist<br />

sehr einfach, nicht verletzt zu sein, man guckt sich<br />

ein anderes Kunstwerk an. Unsere Buchläden sind<br />

voll mit Büchern, damit man auswählen kann. Es<br />

gibt auch Bücher, die mich verletzen würden,<br />

Shades of Grey vermutlich (lacht), aber deswegen<br />

fackele ich nicht den Laden ab. Das Gerede von<br />

»Verletztsein« ist Quatsch. Keiner hat das Recht,<br />

verletzt zu sein. Wäre Verletztsein ein Argument,<br />

wäre Harry Potter in Amerika verboten, weil einige<br />

Leute finden, dass es Hexerei unterstützt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wünschen Sie sich heute, angesichts dessen,<br />

was Sie und viele durchgemacht haben, Sie hätten<br />

das eine oder andere zurückhaltender formuliert?<br />

Rushdie: Im Gegenteil. Wenn ich etwas gelernt<br />

habe: Keine Kompromisse. Es gibt Werte, nach<br />

denen ich mein Leben leben möchte, und sie bilden<br />

die Grundlage für die Art von offener Gesellschaft,<br />

in der ich gerne lebe. Bei diesen Werten<br />

kann es keine Kompromisse geben. Die Freiheit<br />

der Meinungsäußerung gehört dazu, ohne sie verschwinden<br />

alle anderen Freiheiten.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Haben Sie jemals daran gedacht, den Mördern<br />

zuvorzukommen und sich selber zu töten?<br />

Rushdie: Nein, das ist mir nicht gegeben. Aber ich<br />

hatte auch Menschen, die zu mir standen, meine<br />

Familie, meine Frau Elizabeth, mein Sohn.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie sprechen oft, mehr noch als von Furcht,<br />

von Scham, die Sie empfunden haben. Was ist der<br />

Kern dieses Gefühls von Scham?<br />

Rushdie: In der östlichen Kultur gibt es diese Achse<br />

zwischen Ehre und Scham. In der christlichen<br />

Welt liegt sie zwischen Sünde und Erlösung. Es<br />

bedeutet, etwa aus der Perspektive der muslimischen<br />

Kultur, dass Stolz eng verbunden ist mit der<br />

Identität. Wer gezwungen ist, sich so zu verhalten,<br />

das der Stolz verletzt wird – empfindet Scham.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Aber Sie waren noch immer Salman<br />

Rushdie, der den Booker Prize gewonnen hat ...<br />

Rushdie: Das macht es schlimmer. Der Salman<br />

Rushdie, der den Booker Prize gewonnen hat,<br />

muss sich unter dem Küchentisch verstecken,<br />

wenn ein Nachbar vor dem Haus steht.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie leben jetzt mitten in Manhattan ...<br />

Rushdie: Ja.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Im Gewühle beim Union Square ...<br />

Rushdie: Nein, tue ich nicht!<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sehen Sie ab und zu über die Schulter?<br />

Rushdie: Nie. In Manhattan sind alle Taxifahrer<br />

Muslime, nicht selten wollen sie ein Autogramm.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Mr. Rushdie, vielen Dank für das Gespräch.<br />

PS. Der Daily Telegraph meldete am 17. September<br />

<strong>2012</strong>, dass die iranische Gruppierung<br />

15 Khordad Foundation das Kopfgeld auf Salman<br />

Rushdie auf 3,3 Millionen US-Dollar erhöht hat.

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