DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks
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Die Firma Ferrero macht Werbung für sogenannte Über raschungs eier<br />
aus Schokolade, die speziell für Mädchen gemacht sind. Diese Eier<br />
sind schweinchenrosa verpackt. Die Werbung ist eine einzige Orgie in<br />
Rosa. Erwartungsgemäß gab es Proteste, weil mit der Farbe Rosa ja auf<br />
billigste Weise historisch überholte Geschlechterklischees bedient werden.<br />
Mäd chen eier rosa, Büb chen eier hellblau – provozierender geht es<br />
kaum. Ich vermute stark, dass die Werbeagentur feministische Proteste<br />
einkalkuliert hat. Ein Aufreger-Ei, das politische Debatten in intellektuellen<br />
Milieus anstößt, ist aus kaufmännischer Sicht weit besser als<br />
ein Konsens-Ei, über das von CSU bis Linkspartei alle sich einig sind.<br />
Eine Kulturwissenschaftlerin hat mir erklärt, dass noch<br />
im 19. Jahrhundert die Farbe Rosa für die Kleidung von Knaben<br />
verwendet wurde und die Farbe Blau für Mädchen. Das ist alles nur<br />
Kultur, sagte die Kulturwissenschaftlerin. Wenn sich die Gesellschaft<br />
morgen darüber kulturell verständigt, dass Grün die Mädchenfarbe<br />
ist und Gelb die Bübchenfarbe, und wenn sich alle daran<br />
halten, dann ziehen die Mädchen sich übermorgen lindgrüne<br />
Trachtenjanker an. Und überübermorgen gibt es dann Proteste dagegen.<br />
Proteste sind auch Kultur.<br />
Jeder, der mal Jungen und Mädchen hat aufwachsen sehen,<br />
weiß, dass sie irgendwann anfangen, sich auf extrem klischeehafte<br />
Weise wie Jungen und Mädchen aufzuführen. Als mein Sohn klein<br />
war, hat meine Oma ihm oft Puppen geschenkt. Er wollte aber mit<br />
Autos spielen. Ich glaube nicht an die Verschwörungstheorie. Die Verschwörungstheorie<br />
lautet, dass all diese Verhaltensweisen auf unbewusste<br />
Manipulation durch die Erwachsenen zurückzuführen sind.<br />
Mädchen und Jungen möchten einfach ihre Identität finden. Wenn<br />
6<br />
HARALD MARTENSTEIN<br />
Über Geschlechtertheorien:<br />
»Ein Aufreger-Ei ist besser als ein Konsens-Ei«<br />
man der Natur ihren Lauf lässt, kommen am Ende verschiedene Geschlechter<br />
heraus, die sich, trotz vieler Gemeinsamkeiten, in ein paar<br />
Punkten unterschiedlich verhalten.<br />
Ich frage mich, was daran schlecht sein soll und wieso man<br />
es ändern will. Ein Einheitsgender, die Mauen oder die Fränner oder<br />
wie immer das dann heißt, so was wäre doch total langweilig. Frauen<br />
und Männer in klischeehaften Situationen – ich bin dafür. Bei den<br />
Schnecken gibt es das Gegenteil ja bereits, Schnecken haben alle ein<br />
Einheitsgeschlecht. Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich dagegen<br />
kämpfen, dass die Schnecke in unserer Gesellschaft das neue Rollenmodell<br />
wird. Rumschleimen, Salat essen, überall zu spät kommen und<br />
ein einziges Geschlecht haben, ich toleriere das, ich kann damit umgehen,<br />
aber es soll bitte nicht Pflicht werden.<br />
Ich möchte etwas Privates enthüllen. Meine Oma hat auch<br />
mir oft Puppen geschenkt. Ich weiß nicht, wieso. Sie war nicht auf dem<br />
Gender-Trip, sie hat nicht Judith Butler gelesen, sie war lediglich ein<br />
bisschen unkonventionell. Einen nicht unwesentlichen Teil meiner<br />
Kindheit habe ich folglich damit verbracht, Puppen an- und auszuziehen.<br />
Das hat Spaß gemacht, auch wenn ich dadurch falsche Vorstellungen<br />
von der weiblichen Anatomie bekommen habe. Puppen sind in<br />
dieser Hinsicht ein bisschen unrealistisch, was Jungen, die mit Puppen<br />
spielen, leider nicht immer gleich wissen. Und? Am Ende der Puppenspielerei<br />
bin ich vermutlich der gleiche Typ geworden, der ich sowieso<br />
bin, ein Typ, der es völlig egal findet, ob Mädchen rosa Eier essen oder<br />
giftgrüne Eier oder gar keine Eier, ein Typ, der nicht daran glaubt, dass<br />
man mithilfe von Erziehung Menschen in andere Menschen verwandeln<br />
kann, mehr noch, ein Typ, der genau dies gut findet.<br />
Zu hören unter www.zeit.de/audio Illustration Fengel