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DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

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FEUILLETON<br />

Vom Star<br />

zum Opfer<br />

im Netz<br />

Die Kommunikation im Internet ist voller<br />

Fallen. Selbst die Piratenpolitikerin Julia<br />

Schramm verfi ng sich darin VON JENS JESSEN<br />

Das Internet ist ein gefährlicher<br />

Ort. Selbst Menschen,<br />

die das Netz als ihren natürlichen<br />

Lebensraum betrachten,<br />

können darin scheitern,<br />

wie das Beispiel der Piratenpolitikerin<br />

Julia Schramm<br />

zeigt. Ihr Schiffbruch offenbart einen Selbstwiderspruch,<br />

den weder die Sphäre des Web noch die der<br />

Politik verzeihen kann: Sie hat ihr eigenes Medium<br />

nicht verstanden.<br />

»Mein Name ist Julia, und ich lebe im Internet.<br />

Ich bin da ziemlich glücklich, habe Freunde, die<br />

ich nur digital kenne und abschalten kann, wann<br />

ich will.« Mit dieser Idylle beginnt ein autobiografisches<br />

Buch, das sie dieser Tage veröffentlicht hat<br />

– aber unglückseligerweise in traditionell verlegter<br />

Form, zum Kaufen im Buchhandel, und nicht<br />

etwa als Datei zum kostenlosen Download im<br />

Netz, wie es die Autorin eigentlich hätte machen<br />

müssen. Denn Julia Schramm ist eine bekennende<br />

Verächterin des Urheberrechts, eine der radikalsten<br />

und prominentesten, sie fände geistiges Eigentum<br />

»ekelhaft«, äußerte sie einmal. Was will sie<br />

dann im Verlagsgeschäft? Um den Widerspruch<br />

auf die Spitze zu treiben, haben ihre Freunde im<br />

Netz jetzt eine Datei des Buches zur freien Raubkopie<br />

bereitgestellt. Und was tun Julia Schramm<br />

und ihr Verlag? Sie lassen die Datei so schnell wie<br />

möglich verschwinden und bedrohen jeden mit<br />

Abmahnung, der von ihr Gebrauch machen sollte,<br />

falls sich eine Kopie noch irgendwo finden sollte<br />

– was im Labyrinth des Netzes mehr als wahrscheinlich<br />

ist.<br />

Schneller dürfte politische Glaubwürdigkeit noch<br />

nie verspielt worden sein. Jetzt wird sich zeigen, wie<br />

das mit dem Glück und den Freunden im Internet<br />

ist – das heißt, wer wen abschaltet, wenn er den nötigen<br />

Verdruss verspürt. Klick mich heißt der neckische<br />

Titel von Julia Schramms Buch, und der Aufforderung<br />

werden gewiss viele nachkommen: zum<br />

Wegklicken. Der Gerechtigkeit halber muss man allerdings<br />

sagen, dass Personen der Öffentlichkeit sich<br />

schon vor Erfindung des Netzes in gefährliche Selbstwidersprüche<br />

verstrickt haben. Cicero, einer der<br />

berühmtesten Politiker und Autoren der Antike,<br />

wechselte zwischen den Protagonisten des römischen<br />

Julia Schramm, erklärte Feindin des Urheberrechts. Ihr Verlag geht gegen Raubkopien ihres Buches vor<br />

Bürgerkrieges, zwischen Marc Anton und Octavian,<br />

so lange hin und her und hielt für jedes der Lager so<br />

eindrucksvolle, tief überzeugte Reden, dass schließlich<br />

jede Autorität dahin war. Themistokles, der<br />

glänzende Verteidiger athenischer Freiheit gegen die<br />

persische Monarchie, lief am Ende seines Lebens zum<br />

Großkönig über – was ihn in der griechischen Öffentlichkeit<br />

vom demokratischen Freiheitshelden zum<br />

Hasardeur, wenn nicht Lakaien machte.<br />

Seitenwechsel sind in der Politik nicht immer<br />

tödlich – aber immer dann, wenn die Sache der einen<br />

Seite mit einem Maß an ideologischer Überhöhung<br />

vertreten wurde, dass der Übertritt ins andere Lager<br />

nicht mehr als taktisch, noch nicht einmal als opportunistisch,<br />

sondern als blanker Verrat, als Ausweis<br />

bodenloser Charakterlosigkeit erlebt wird. Angela<br />

Merkel, deren Hin und Her in der Finanzkrise gewiss<br />

nicht prinzipienfest war, hat es doch klug vermieden,<br />

jemals irgendeine ihrer vorübergehenden Positionen<br />

ideologisch zu begründen. Das war schlimm in den<br />

Augen ihrer Kritiker, die Prinzipientreue gerne hätten<br />

– aber nicht schlimm für sie, die etwas anderes als<br />

Pragmatismus niemals versprach.<br />

Und vor allem: Das Drama der Merkelschen<br />

Krisenbewältigung wird<br />

nicht im Netz uraufgeführt. Es spiegelt<br />

sich nur dort – wie sich alles im<br />

Netz spiegelt. Das ist ein bedeutender<br />

Unterschied. Angela Merkel kann sich an die<br />

üblichen politischen Teilöffentlichkeiten wenden,<br />

an das Parlament, das Kabinett, die Partei; an das<br />

Plenum internationaler Gipfeltreffen oder kaum<br />

sichtbare Diplomatenkreise; schließlich auch an<br />

eine allgemeine, aber immer medial vermittelte<br />

Öffentlichkeit, sieht man von ihrem Podcast einmal<br />

ab. Mit anderen Worten: Es sind deutlich verschiedene,<br />

voneinander abgegrenzte Sprechakte, je<br />

nach Publikum und Adressat, und selbst Botschaften<br />

direkt ans Volk haben ihre eigentümliche, definierte<br />

Form wie in den Weihnachtsansprachen<br />

oder werden von Journalisten übermittelt, also gewohnheitsmäßigen<br />

Übersetzern.<br />

Nirgendwo schießen diese Sprechakte unvermittelt<br />

zusammen oder treffen auf ungeübte Ohren.<br />

Sie verlieren auch ihre zeitliche Ordnung<br />

nicht. Es gibt nur einen Ort, wo dies geschehen<br />

könnte – wo nicht mehr kalkulierbar ist, zu wem<br />

man spricht, und wo Entstehung und Zeit einer<br />

Wortmeldung unsichtbar werden: Das ist das Internet.<br />

Man überlege sich nur einmal, was im Netz<br />

mit dem politischen Denker Heinrich Heine geschehen<br />

wäre, dessen Position sich im Laufe seines<br />

Lebens vom Demokraten zum Kommunisten und<br />

schließlich Monarchisten wandelte. Jede Phase<br />

seines Denkens hätte die andere unrettbar denunziert,<br />

obwohl Jahrzehnte zwischen ihnen lagen<br />

und Heines charakteristische Dialektik im Übrigen<br />

auch nahelegte, jeweils eine Gegenposition zur<br />

herrschenden Meinung zu artikulieren.<br />

Heinrich Heine, der bedeutendste Gesellschaftskritiker<br />

vor Marx und Nietzsche, wäre im Netz nichts<br />

als eine verlachte Hassfigur – wenig mehr als eine<br />

Julia Schramm, die gestern das Urheberrecht verachtet<br />

und heute die Profite daraus sichern möchte.<br />

Nun wird man zugeben müssen, dass Schramm ihre<br />

Positionen auch nach Maßstäben der Dialektik deutlich<br />

zu rasch und unvermittelt gewechselt hat. Aber<br />

in einer anderen Kommunikationsumgebung hätte<br />

man doch von gewandelter Einsicht sprechen können<br />

oder sogar eine Unterscheidung gemacht zwischen<br />

der politischen Person und der Geld verdienenden<br />

Privatperson – vielleicht jedenfalls.<br />

Das eigentliche Dilemma des Netzes besteht in<br />

seiner grenzenlosen, für niemanden einschätzbaren<br />

Öffentlichkeit. Wer im Netz spricht, weiß niemals,<br />

zu wem er spricht – von klar eingegrenzten Foren<br />

einmal abgesehen. Gibt es Kenntnisse, Einsichten,<br />

moralische Maßstäbe, gar Ironiefähigkeit oder Bildung?<br />

Es gibt sie natürlich – und es gibt sie natürlich<br />

nicht. Wer das Wesen seines Adressaten nicht kennt,<br />

kann aber keinen sinnvollen Satz formulieren. Was<br />

dem einen als selbstverständlich, fast als Plattitüde<br />

erscheint, kann schon dem nächsten Tränen des Zorns<br />

in die Augen treiben. Man äußere nur einmal im Netz,<br />

dass Norwegen oder die Ukraine künstlich geschaffene,<br />

auf wackliger Grundlage erfundene Nationen<br />

ohne Tradition seien – es würde bei jedem Historiker,<br />

auch bei jedem historisch gebildeten Norweger oder<br />

Ukrainer nur müde Zustimmung, aber bei allen<br />

naiven Patrioten Wutschreie provozieren.<br />

Nicht nur die Welt als Ganze, auch jede Nation<br />

und jede Stadt besteht aus zahllosen Parallelgesellschaften,<br />

deren Denkhorizonte nicht ohne bizarre<br />

LITERATUR<br />

Ulf Erdmann Zieglers Roman<br />

»Nichts Weißes« S. 47<br />

Missverständnisse und tiefe Kränkungen zusammengeführt<br />

werden können. Nur ein besonders trauriges<br />

Beispiel ist das antimohammedanische Video, das<br />

derzeit sein Hasspotenzial vom Internet hinaus auf<br />

die Straße trägt, aber für ein westliches Publikum nur<br />

eine Albernheit darstellt, während es die islamische<br />

Welt ganz ernsthaft ins Mark trifft. Mit guten Gründen<br />

haben die traditionellen Medien, die regional<br />

begrenzten Sender und Zeitungen, stets nur Teilöffentlichkeiten<br />

bedient – die Parallelgesellschaften<br />

der Welt abgebildet.<br />

Natürlich kann es seinen Witz, mitunter<br />

auch eine lehrreiche Pointe<br />

haben, wenn die Mauern zwischen<br />

Milieus eingerissen werden – und<br />

die Welt erfährt, wie der amerikanische<br />

Präsidentschaftskandidat Romney im kleinen<br />

Kreis die Wähler seines Kontrahenten Obama<br />

beschimpft, die er eigentlich für sich gewinnen<br />

müsste. Aber was folgt daraus? Mitt Romney hat<br />

den Sprechakt gewählt, der dem kleinen Kreis von<br />

Anhängern vielleicht sehr angemessen war – nur<br />

eben nicht geeignet, heimlich mitgefilmt und ins<br />

World Wide Web gepustet zu werden. Nüchtern<br />

gesehen, war sein Fehler nur, die jederzeit mögliche<br />

und tödliche Denunziation im Netz nicht einkalkuliert<br />

zu haben.<br />

Auf der Überschreitung von Milieugrenzen, die<br />

in den traditionellen Medien selbstverständlich bestanden,<br />

beruhte auch die Aufregung über die<br />

Nacktfotos von Kate Middleton. In der Schmuddelpresse<br />

mit ihrem Schmuddelpublikum hätten sie<br />

ihren rechten Ort gehabt und vielleicht nur einen<br />

kleinen Prozess nach sich gezogen, der zur Feier<br />

solcher Indiskretion gehört. Erst die Präsentation<br />

vor dem unspezifischen Publikum des Internets<br />

konnte den Gedanken der Majestätsbeleidigung<br />

aufkommen lassen. Niemand weiß, wie die Fotos<br />

dort gelesen werden, mit einem Augenzwinkern<br />

oder dem dramatischen Verlust jeden Respekts vor<br />

der Monarchie.<br />

Die Revolution einer Weltöffentlichkeit, die das<br />

Internet geschaffen hat, wird Jahrzehnte, wenn nicht<br />

Jahrhunderte brauchen, um aufgeklärte, tolerante<br />

Formen des Gesprächs zu entwickeln, das nicht Hass<br />

und Missgunst jederzeit fürchten muss.<br />

Foto (Ausschnitt): Hermann Bredehorst/Polaris/laif<br />

GLAUBEN & ZWEIFELN<br />

Blasphemie: Ein Gespräch mit Seyran Ates<br />

über Demokratie und religiöse Gefühle S. 58<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 43<br />

HASS-VIDEO<br />

Falsche Bärte<br />

Was zeigt der Schmähfilm gegen<br />

Mohammed eigentlich?<br />

Jeder kennt diese scheinbar von einem Nichts<br />

ausgelösten Familienstreite, die zu Türenknallen,<br />

Geschrei, ja sogar panischen Fluchten<br />

im Auto eskalieren. Nach einer Weile,<br />

wenn alle heiser geschrien wieder zusammenkommen,<br />

fragt man sich, was zum Teufel eigentlich<br />

der Auslöser war. Zwei der schlimmsten<br />

Streite unserer Familie wurden ausgelöst<br />

von einer roten Socke, die meine Schwester<br />

oder ich aus Versehen in die Kochwäsche geworfen<br />

hatte, und von einem unter den Teller<br />

geklebten Kaugummi.<br />

Es ist nicht zynisch, die Ausschreitungen<br />

der Muslime in aller Welt aus einem analogen<br />

Blickwinkel zu betrachten. Es ist nicht<br />

zynisch, weil der Konflikt ganz offenkundig<br />

nur einen beliebigen, ja regelrecht abseitigen<br />

Auslöser brauchte, um sich in stereotyper<br />

Weise zu entfalten. Wer sich den sogenannten<br />

Mohammed-Schmähfilm The Innocence<br />

of Muslims als Kurzversion im Internet anschaut,<br />

der sieht: Menschen mit angeklebten<br />

Bärten, die in eine Art digitale Wüstentapete<br />

montiert sind. Männer in scheichartigen<br />

Gewändern (die es in Berlin bei Deko-Behrend<br />

in besserer Qualität gibt), die mit<br />

Schwertern herumfuchteln. Einen Typen namens<br />

Mohammed, der sich mit einem Straßenjungen<br />

um einen abgenagten Knochen<br />

streitet, seinen Kopf linkisch zwischen die<br />

Beine einer Frau steckt, alle weiblichen Wesen<br />

in seiner Umgebung ins Bett zieht und<br />

auf debile Weise zum Feldzug gegen Christen<br />

aufruft. Das Ganze, man muss es einfach<br />

sagen, sieht aus, als habe Otto Waalkes den<br />

Koran gelesen und nach einer Wasserpfeife<br />

einen Trailer für 7 Zwerge – Männer allein in<br />

der Wüste gedreht. Oder als habe sich eine<br />

Laienspielgruppe in der deutschen Provinz<br />

nach ein paar Kästen Bier vorgenommen, bei<br />

den Passionsspielen mal was richtig Abgefahrenes<br />

zu machen.<br />

Es nimmt nicht weiter Wunder, dass für<br />

den Dreh des Films ein Trash-und-Porno-<br />

Regisseur mit dem Pseudonym Alan Roberts<br />

verantwortlich zeichnet (seine weiteren<br />

Werke sind: Zombie-Kriege, Die glückliche<br />

Nutte geht nach Hollywood). Der Internetclip<br />

ist ja tatsächlich ein Pornofilm, ein<br />

schmutziges, kleines, blödes Werk mit Alibihandlung,<br />

das möglichst umstandslos<br />

zum Ziel kommt. Die einstündige Langfassung<br />

wurde bisher nur einmal, vergangenen<br />

Juni, in einem halb leeren Kino in Hollywood<br />

gezeigt, ohne dass sich irgendjemand<br />

darüber aufgeregt hat.<br />

Was heißt das? Dass es rein gar nichts<br />

bringen kann, hinter den teilnahmslos in die<br />

Wüste blickenden Kamelen und Blechsäbeln<br />

von The Innocence of Muslims nach Gründen<br />

für die Hassausbrüche und die Toten der<br />

letzten Tage zu suchen. Dass den Ernst der<br />

Lage zu erkennen gerade bedeuten kann, den<br />

Auslöser nicht zu ernst zu nehmen. Und dass<br />

es eine Irreleitung wäre, den Clip durch ein<br />

Verbot noch weiter aufzuwerten und zu dämonisieren.<br />

Man wird unzählige Werke finden<br />

können, die mit den vielschichtigen Ursachen<br />

der arabischen Unruhen zwar nichts<br />

zu tun haben, aber mühelos für weitere Mobilmachungen<br />

instrumentalisiert werden<br />

können. Genauso gut könnte man rote Socken<br />

verbieten. KATJA NICODEMUS

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