DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks
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REISEN<br />
Ein Stück vom Himmel<br />
Seit vielen Jahrzehnten reisen Juden in die Schweizer Alpen. Doch von den koscheren Hotels ist nur eines geblieben,<br />
das Metropol in Arosa. Jeder Gast sei ein Gottesgeschenk, sagen seine Besitzer, die Levins VON PAULA SCHEIDT<br />
Zur Abendessenszeit sind die gedeckten<br />
Tische im Hotel Metropol unbesetzt,<br />
nur an einem löffelt ein älterer Herr mit<br />
grauen Schläfenlocken und Kippa auf<br />
dem Kopf bedächtig seine Suppe. Ab<br />
und zu hebt der einsame Gast den Blick und betrachtet<br />
die Alpengipfel, die sich vor der Fensterfront<br />
erheben. Die Kellnerin beobachtet ihn aus<br />
einiger Entfernung; als er den Löffel ablegt, kommt<br />
sie, räumt das Suppenschälchen ab und bringt den<br />
Hauptgang: Rinderbraten, Nudeln und Erbsen-<br />
Karotten-Gemüse. Der Gast kann nicht sehen, dass<br />
das Fleisch von einem geschächteten Tier stammt<br />
und im richtigen Topf zubereitet wurde. Aber er<br />
kann sich darauf verlassen, deshalb ist er hier.<br />
Weder der Hauptgang noch die Vorspeise oder<br />
das Dessert, ein Stück Apfelkuchen, enthalten Milchprodukte.<br />
Orthodoxe Juden müssen Milch und<br />
Fleisch zu getrennten Mahlzeiten essen, und das<br />
Metropol ist ein jüdisches Hotel. In der Küche verwenden<br />
die Angestellten unterschiedliches Geschirr<br />
für milchige und fleischige Speisen. Es gibt kein<br />
Schweinefleisch. Und der Wein ist koscher, was unter<br />
anderem bedeutet, dass die Trauben erst im vierten<br />
Jahr nach der Pflanzung geerntet und alle Geräte<br />
unter der Aufsicht eines Rabbiners gesäubert wurden.<br />
Marcel Levin, Besitzer des Hotels, mit dichtem<br />
grauem Bart, Nadelstreifenanzug und Kippa auf dem<br />
Kopf, macht einen Rundgang durch seinen leeren<br />
Speisesaal. Die Vorhänge sind von der Sonne ausgeblichen,<br />
von den Fensterrahmen bröckelt an einigen<br />
Stellen die Lackierung. Er begrüßt seinen einzigen<br />
Gast mit Händedruck. Der möchte wissen, wie lange<br />
denn die Saison dauern werde in diesem Jahr. Herr<br />
Levin seufzt und antwortet in einer Mischung aus<br />
Iwrit und Hochdeutsch: »Früher wussten wir immer,<br />
wie viele Gäste wir erwarten und wie lange sie bleiben.<br />
Heute ist jeder einzelne Gast ein Geschenk Gottes.«<br />
Der andere nickt, er weiß, wovon die Rede ist. Seit<br />
vier Generationen macht seine Familie hier jedes Jahr<br />
Ferien, sie reisen von Jerusalem an. In den 1980er<br />
Jahren gab es noch sechs koschere Hotels in den<br />
Schweizer Alpen, doch nach und nach haben fast alle<br />
den Kampf um die jüdischen Gäste verloren: das<br />
Silberhorn in Grindelwald, das Edelweiß in St. Moritz,<br />
das Palace in Scuols. Heute ist das Metropol in<br />
Arosa das einzige, das noch übrig ist. Aber auch zu<br />
den Levins kommen von Jahr zu Jahr weniger Gäste.<br />
Viele haben finanzielle Gründe. Sie entscheiden<br />
sich lieber für eine Ferienwohnung, seit einige Vermieter<br />
begonnen haben, sich auf die Wünsche jüdisch-orthodoxer<br />
Gäste einzustellen. Die Eigentümer<br />
schalten am Freitagabend etwa den Bewegungsmelder<br />
vor dem Haus aus, weil Juden am Sabbat keine elektrischen<br />
Geräte betätigen dürfen. In einer Wohnung<br />
können fünf Personen zu einem Preis übernachten,<br />
den im Metropol eine einzige bezahlt. Wenn die<br />
Wohnung in der Nähe des Hotels liegt, können die<br />
Urlauber trotzdem noch zum Essen, Beten und<br />
Freunde treffen dorthin gehen.<br />
Die größere Bedrohung für das Metropol aber<br />
ist eine andere. Seit der schwache Euro manchen<br />
Touristen einen Bogen um die Schweiz machen<br />
lässt, stehen einige Hotels leer; nur hin und wieder<br />
werden sie für ein paar Wochen verpachtet, etwa<br />
an Pauschalreisen-Veranstalter. Seit einigen Jahren<br />
quartieren sich in der Hochsaison auch geschäftstüchtige<br />
Hoteliers aus Israel darin ein. Diese Kurzzeithoteliers<br />
müssen im Gegensatz zu den Levins<br />
weder Instandhaltungskosten für das Gebäude bezahlen<br />
noch Schweizer Sozialversicherungsbeiträge<br />
für die Angestellten oder teure Schweizer Lebensmittel.<br />
Alles, was sie brauchen, bringen sie aus dem<br />
Ausland mit, vom Suppenpulver über die Gebetsbücher<br />
bis zum Personal – und sogar die Gäste:<br />
Die Kurzzeithoteliers werben gezielt in Israel für<br />
ihr Angebot wie für ein Ferienlager.<br />
Diese Entwicklung hat inzwischen auch die Levins »Um einen Apfel ernten zu können, pflanzt man ei-<br />
erfasst: Die sechs Kinder der Familie reisen jeden nen Baum, der wächst von allein; und wenn er groß<br />
Sommer aus London, Tel Aviv und Zürich an und ist, muss man nur den Arm ausstrecken und die<br />
quartieren sich in Davos im ehemaligen Sheraton ein, Äpfel pflücken. Für eine Kartoffel muss man erst mit<br />
das heute Derby heißt. »The Levin Family invites you dem Pflug Furchen in den Acker ziehen, dann wird<br />
this Summer to join them for a High Class Kosher Ho- gesät, und wenn die Kartoffeln reif sind, muss man<br />
liday in the ****Derby Davos – Switzerland«, steht auf jede ausgraben.« Herr Levin ist der Ansicht, dass Gott<br />
der Homepage. Das Haus hat 200 Betten, mehr als absichtlich nicht nur Äpfel, sondern auch Kartoffeln<br />
doppelt so viele wie das Metropol, und einen Pool. erschaffen hat. Die Menschen sollen nicht immer den<br />
In Arosa gibt es nur ein öffentliches Bad.<br />
leichten Weg gehen, sondern auch die Mühen des<br />
Beinas Levin war es, der Vater des heutigen Hotel- Kartoffelanbaus auf sich nehmen. Vielleicht ist das<br />
besitzers, der die jüdischen Gäste ursprünglich nach Metropol sein persönlicher Kartoffelacker.<br />
Arosa holte. Anfang der 1930er Jahre kam er von Das Hotel liegt an der Hauptstraße von Arosa, die<br />
Russland nach Davos, weil er an Tuberkulose litt und<br />
die Kurorte in den Bündner Bergen für ihre heilende<br />
Wirkung weltbekannt waren. Von der Krankheit<br />
kuriert, zog er weiter nach Arosa und eröffnete das<br />
erste und einzige koschere Hotel im Ort. »Auf sanfter<br />
Höhe (...) steht das Hotel Metropol, das seit einigen<br />
Jahren in bestimmten Sommer- und Wintermonaten<br />
Treffpunkt jüdischer Menschen ist, die sich in die<br />
Berge flüchten, wo sie am schönsten sind und wo die<br />
Schneedecke noch blendend leuchtet, wenn unten<br />
bereits die Alpenrosen blühen«, schrieb die Zeitschrift<br />
Israelit im Jahr 1935. Neben der Faszination, die die<br />
Bergwelt auf viele Städter ausübt, haben die Alpen<br />
für Juden traditionell eine besondere Bedeutung: Der<br />
Fels steht in der Thora bildhaft für Gott, Gipfel symbolisieren<br />
die Berührung von Irdischem und Göttlichem.<br />
Vom Begründer der jüdischen Neoorthodoxie<br />
Samson Raphael Hirsch ist der Satz überliefert:<br />
»Wenn ich vor Gott stehen werde, wird der Ewige<br />
mich fragen: Hast du meine Alpen gesehen?«<br />
Als Beinas Levin das Metropol in den 1980er<br />
Jahren seinem Sohn übergab, hatte das Hotel schon<br />
manch dunkle Zeit überstanden. In den Jahren des<br />
Nationalsozialismus machten auch viele Nazis Urlaub<br />
in den Schweizer Alpen – die Stimmung zwischen<br />
den Gästen war nicht zum Besten. Später wurden die<br />
jüdischen Urlauber ebenfalls nicht immer herzlich<br />
empfangen. Manche Leute, denen die vielen frommen<br />
Juden nicht passten, nannten das Hotel abschätzig<br />
»Arosalem«.<br />
Nachdem das Frühstücksbüfett abgeräumt ist, holt<br />
Lea Levin ihre Einkaufstasche, um ein paar Dinge im<br />
Dorf zu erledigen. Sie trägt einen dunklen, langen<br />
Rock und blickdichte Nylonstrümpfe, p wie<br />
es sich für eine fromme Jüdin gehört, ört,<br />
jedoch keine Perücke wie einige e<br />
ihrer besonders gläubigen weiblichen<br />
Gäste. Anfangs war Frau<br />
Levin nicht begeistert von der<br />
sich vom Bahnhof den Berg hinauf windet. Sie führt<br />
Idee, ihren Job als Kindergärtnerin<br />
aufzugeben, um das Hotel<br />
des Schwiegervaters mitzuübernehmen.<br />
»Gäste sind wie<br />
SCHWEIZ<br />
Grindelwald<br />
Davos<br />
AROSA Scuol<br />
Graubünden<br />
durch das Zentrum des<br />
2600-Einwohner-Dorfes,<br />
Kinder«, überredete ihr Mann<br />
St. Moritz vorbei am Supermarkt, der<br />
sie schließlich doch. Ein Satz, der<br />
Bäckerei B und dem Sportgeschäft<br />
ihr geblieben ist.<br />
– und wenn man bis zum Ende<br />
Bis zum Fotofachgeschäft sind es<br />
nur ein paar Schritte die Straße hinunter. unter.<br />
<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK<br />
50 km<br />
geht geht, dann liegt dort das »Eggahuus«,<br />
huus«, das Heimatmuseum: ein hüb-<br />
Lea Levin, die in Israel geboren ist, fragt die<br />
sches altes Chalet mit roten Fensterläden<br />
Verkäuferin in fast perfektem Schweizerdeutsch, und Blumen im Vorgarten. Hier ist alles dokumen-<br />
welche Postkartenmotive sie zur Auswahl habe. Ihre tiert, was in Arosa Bedeutung hat. Fotos von Turnver-<br />
Gäste schicken gerne Grüße nach Hause. Frau Levin einsfesten und Skirennen sind ausgestellt, antike<br />
entscheidet sich für ein Gipfelpanorama, einen Berg- Blechtöpfe und Landkarten. Nachmittags treffen sich<br />
see, eine Blumenwiese, Arosa von oben; insgesamt ein paar Einheimische im Museum zu Kaffee und<br />
bestellt sie 75 Karten. Als Nächstes betritt sie die Tal- Kuchen. Die Familie Levin? Ist nicht dabei und war<br />
station der Gondelbahn. Hier können Hotelbesitzer nie hier; und umgekehrt hat keiner der Anwesenden<br />
für ihre Gäste die Arosa-All-inclusive-Card abholen, das Metropol je betreten. Nur Renzo Semadeni, der<br />
mit der man verschiedene Vergünstigungen bekommt. Dorfhistoriker, hat dort mal ein Glas Wein getrunken,<br />
Lea Levin nimmt 200 Karten mit. Ob sie die braucht, aus geschäftlichen Gründen. Als Kind ist er mit Mar-<br />
ist ungewiss.<br />
cel Levin zur Schule gegangen. Der und seine Ge-<br />
Es gibt ein Gleichnis, das Marcel Levin seinen schwister waren die Einzigen, die am Samstag, dem<br />
Gästen gern erzählt, das Gleichnis vom Apfel und der Sabbat, ihren Schulranzen nicht tragen durften, das<br />
Kartoffel. »Worin besteht der Unterschied zwischen machten dann die Schulkameraden für sie. Semadeni<br />
den beiden?«, fragt er und gibt selbst die Antwort: holt dicke Chroniken aus dem Regal und blättert<br />
ÖSTER- ÖSTER-<br />
REICH REICH<br />
ITALIEN ITALIEN<br />
darin. Ein einziger Satz erwähnt die Ankunft von<br />
Marcel Levins Vater im Ort, mehr ist nicht zu finden<br />
über die Familie oder das Hotel. »Es ist, als ob es<br />
dieses Thema hier einfach nicht gibt«, sagt Semadeni.<br />
Nachmittags zieht Marcel Levin sich einen Fahrradhelm<br />
über die Kippa und Bikerhandschuhe an,<br />
steigt auf sein silberfarbenes Mountainbike und radelt<br />
einen der vielen Schotterwege den Berg hinauf. Auf<br />
Höhe der Mittelstation macht er Pause, setzt sich auf<br />
eine Bank und atmet tief durch, bevor es wieder hinunter<br />
geht. Die rauschenden Bäche, das Gebimmel<br />
der Kuhglocken, die gepflegten Wanderwege: Das<br />
alles liebt er, auch wenn es von oben aussieht wie die<br />
Kulisse eines kitschigen Heimatfilms. Manchmal<br />
nimmt er auch einen seiner Gäste aus Tel Aviv, New<br />
York oder Antwerpen mit auf eine Mountainbiketour.<br />
Marcel Levin setzt darauf, dass manche Urlauber<br />
auch weiter lieber in seinem Familienhotel nächtigen<br />
als im Derby mit seinen 200 Betten: Weil die Levins<br />
einen Gast, der nachts einen Schwächeanfall bekommt,<br />
nach Chur ins Krankenhaus fahren. Weil sie<br />
suchen helfen, wenn sich ein Kind verlaufen hat. Weil<br />
ihre Angestellten jeden Gast mit Namen ansprechen.<br />
Und wenn jemand seine Mahlzeit ungesalzen essen<br />
möchte, wird das in der Küche berücksichtigt.<br />
Das moderne Kurzzeithotel der Kinder in Davos<br />
will Marcel Levin nicht als Konkurrenz betrachten:<br />
Ist doch positiv, dass die nächste Generation etwas<br />
Eigenes auf die Beine gestellt hat. Wenn man die<br />
Telefonnummer der Levins wählt, hebt neuerdings<br />
nicht mehr Frau Levins ältere Schwester den Hörer<br />
ab. Sondern eine automatische Stimme sagt am anderen<br />
Ende der Leitung: »Drücken Sie die 1 für<br />
Davos oder die 2 für Arosa.«<br />
Hotel Metropol, Poststraße, 7050 Arosa, Schweiz,<br />
Tel. 0041-81/378 81 81, www.levinarosa.com<br />
20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 61<br />
Orthodoxe Juden<br />
in der Seilbahn an<br />
der Talstation<br />
Diavolezza bei<br />
Sankt Moritz<br />
Foto: Patricia Schon & Michael Melcer/foto@melcer.de