DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks
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POLITIK<br />
DAMALS: 18.11.2011<br />
Staatsmacht<br />
Die Occupy-Bewegung ist gerade<br />
zwei Monate alt, als die Staatsmacht<br />
ausholt. An der Universität<br />
von Davis, Kalifornien, demonstrieren<br />
Studenten mit einer Sitzblockade<br />
gegen höhere Studiengebühren.<br />
Da kommt ein Polizist<br />
mit einer Dose Pfefferspray. Er<br />
schreitet die Reihe ab und sprüht<br />
in die Gesichter – so lässig, als<br />
gieße er den Rasen oder das Gemüsebeet.<br />
Der Polizist trägt Schutzhelm<br />
und Pistole, er schaut runter auf<br />
ein Häuflein Jeanshosen, eilig<br />
über den Kopf gezogener Kapuzen<br />
und nackte Fußknöchel. Einen<br />
Brillenträger trifft er mitten<br />
ins Gesicht. Die Studenten am<br />
Rand filmen ihn. Und so geht<br />
das Bild des brutalen Polizisten<br />
um die Welt, schließlich verliert<br />
er seinen Job. Im Internet tauchen<br />
Tausende Karikaturen auf,<br />
die den »Pfefferspray-Cop« verhöhnen.<br />
Von da an gehen die<br />
Proteste erst richtig los. MEI<br />
Sparen ruiniert uns alle<br />
Die deutsche Politik führt Europa in die Katastrophe VON LAURENT JOFFRIN<br />
Die öffentliche Meinung in Deutschland fordert<br />
von allen europäischen Ländern harte<br />
Budgetdisziplin. Das ist vollkommen verständlich.<br />
Die Bundesrepublik hat zehn Jahre lang<br />
schmerzhafte Reformen umgesetzt, die soziale<br />
Errungenschaften infrage stellten und für einen<br />
bedeutenden Teil der Bevölkerung Einkommensverluste<br />
mit sich brachten. Und tatsächlich,<br />
nach dieser spektakulären Anstrengung<br />
fasste die deutsche Wirtschaft wieder<br />
Tritt. Die Finanzen gesundeten, die Arbeitslosenrate<br />
sank.<br />
Angesichts dieses Erfolgs, für den sie hart<br />
gearbeitet haben, verstehen die Deutschen<br />
nicht, wieso sie jetzt Länder subventionieren<br />
sollten, die vergleichbare Anstrengungen verweigert<br />
hatten und stattdessen den leichteren<br />
Weg gingen: den in die Verschuldung. Mit<br />
größtem Misstrauen blicken die Deutschen<br />
jetzt auf Europas Süden und seine Forderungen,<br />
von denen sie fürchten, dass sie die Geldstabilität<br />
der Union gefährden könnten. Sie erinnern<br />
sich auch gut an die feierlich auf EU-<br />
Gipfeln gegebenen Versprechen einiger europäischer<br />
Spitzenpolitiker: Kaum<br />
waren die Regierungsvertreter<br />
wieder in ihre Länder zurückgekehrt,<br />
war alles vergessen.<br />
Und doch: Diese logische,<br />
rationale, gerechtfertigte Haltung<br />
führt geradewegs in die<br />
Katastrophe.<br />
Die in Europa praktizierte<br />
Sparpolitik wirkt zerstörerisch.<br />
Simultan – und oft brutal – umgesetzt,<br />
drosselt sie auf dem gesamten<br />
Kontinent die Nachfrage.<br />
Die wirtschaftliche Aktivität<br />
erliegt, die Zahl der Pleiten<br />
nimmt zu, die Gewinne<br />
schrumpfen, und währenddessen<br />
wächst die Arbeitslosigkeit:<br />
Es gibt Länder, in denen sie<br />
mehr als 20 Prozent der Bevölkerung<br />
erfasst hat. In einigen Südländern ist die<br />
Hälfte der Jugendlichen im arbeitsfähigen Alter<br />
beschäftigungslos. Die wirtschaftliche Paralyse<br />
reduziert wiederum die Einnahmen aus Steuern<br />
und Sozialabgaben. Und das in einem Maße,<br />
dass die Sparpolitik just die gegenteilige Wirkung<br />
erzielt als die angestrebte: Anstatt die Defizite<br />
zu verringern, vergrößert sie diese.<br />
Das deutlichste Beispiel für den perversen<br />
Effekt der Austeritätspolitik bietet Portugal.<br />
Nachdem das Land mit Eifer die europäischen<br />
Empfehlungen umgesetzt und alle geforderten<br />
Strukturreformen verwirklicht hatte, auch die<br />
schmerzlichsten, musste die Regierung in Lissabon<br />
feststellen, dass ihr Budgetdefizit sogar noch<br />
gewachsen war und ihre Verschuldung eine atemberaubende<br />
Höhe erreicht hatte.<br />
Mit anderen Worten: Austeritätspolitik<br />
bringt die Gefahr mit sich, dass die europäischen<br />
Patienten geheilt sterben.<br />
Die Rezession, die sich auf dem Kontinent<br />
auszubreiten beginnt, wird überdies politische<br />
Auswirkungen haben. Schon jetzt wenden sich<br />
die Völker mehr und mehr von einer Politik ab,<br />
von der sie meinen, dass sie ihnen von Brüssel<br />
oder Berlin aufgezwungen wird. Jeder weiß,<br />
dass der derzeit diskutierte Fiskalpakt, der von<br />
den Unterzeichnern eine Schuldenbremse verlangt<br />
und europäische Kontrollmechanismen<br />
LAURENT JOFFRIN,<br />
geboren 1952, ist<br />
Chefredakteur der<br />
führenden französischen<br />
Wochenzeitschrift »Le<br />
Nouvel Observateur«<br />
und Verfasser mehrerer<br />
Romane und Sachbücher<br />
für die Budgetdisziplin vorsieht, in etlichen<br />
Ländern abgelehnt werden würde, legte man<br />
ihn zur Ratifizierung den Bürgern und nicht<br />
den Parlamenten vor. Wahrscheinlich geben die<br />
Antieuropäer bereits die Mehrheitsstimmung in<br />
diesen Zeiten der Krise wieder. Extreme Parteien<br />
sehen sich ermutigt. In Frankreich streifte<br />
der nationalistische Front National in den<br />
jüngsten Präsidentschaftswahlen die 20 Prozent,<br />
während die extreme Linke auf mehr als<br />
zehn Prozent kam; der Anteil der Franzosen, die<br />
das europäische System in seiner jetzigen Form<br />
radikal ablehnen, beträgt mithin ein Drittel der<br />
Bevölkerung. Vergleichbare Phänomene werden<br />
in zahlreichen Ländern der Europäischen<br />
Union beobachtet.<br />
Deshalb stehen die Deutschen vor einer<br />
doppelten Bedrohung. Erstens wird ihre Wirtschaft,<br />
die vom Export in den europäischen<br />
Raum abhängt, direkt von der europaweiten<br />
Rezession bedroht. Indem sie von sparunwilligen<br />
Ländern Austeritätspolitik verlangt, bestraft<br />
sich die Bundesrepublik also selbst. Ein<br />
erfolgreiches Deutschland inmitten eines ruinierten<br />
Europas? Das wäre<br />
nicht möglich. Zweitens aber<br />
droht auch politische Gefahr.<br />
Die Existenz des Euro wäre infrage<br />
gestellt, würde er für die<br />
Bevölkerung der Südländer<br />
zum Symbol der sozialen Opfer<br />
und Leiden; der Auftrieb nationalistischer<br />
Parteien würde<br />
dann jene politische Union gefährden,<br />
die mehrere europäische<br />
Generationen, namentlich<br />
Deutsche und Franzosen, mit<br />
so viel Mühe aufgebaut hatten.<br />
Doch es gibt einen Ausgang<br />
aus diesem vertrackten Labyrinth.<br />
Europa kann und muss<br />
auf die Rezession reagieren:<br />
Wachstumspolitik ist jetzt das<br />
dringendste Gebot, mehr als<br />
Sparpolitik. Nicht dass auf seriöse Budgetpolitik<br />
verzichtet werden soll, nein, das Vertrauen<br />
der Märkte in die europäischen Regierungen<br />
muss wiederhergestellt werden. Eine machtvolle<br />
Konjunkturpolitik ist notwendig, und es<br />
liegt an Brüssel, sie zu beschließen. Nur sofortiges,<br />
gemeinsames Handeln auf kontinentaler<br />
Ebene kann eine dramatische Rezession verhindern,<br />
die Europa in den Ruin treibt.<br />
Wie das bezahlt werden soll? Durch Kredite<br />
der Zentralbank für die EU und nicht bloß<br />
für die Banken. In einer schrumpfenden Wirtschaft<br />
gibt es schließlich kein Inflationsrisiko.<br />
Es ist an der Zeit, dass die Europäische Zentralbank<br />
ihre Verantwortung für das Wachstum<br />
so wahrnimmt, wie es alle Zentralbanken<br />
der Welt tun – und wie es ja auch Mario Draghi<br />
zu tun beginnt, indem er Staatsanleihen<br />
gefährdeter Länder auf dem Sekundärmarkt<br />
kauft. Eine solche Politik der monetären Expansion,<br />
gewiss gesteuert und kontrolliert, ist<br />
der einzige Rettungsanker für einen Kontinent,<br />
der von einer Krise wie im Jahr 1929 bedroht<br />
wird. Muss man dafür Dogmen opfern?<br />
Unbedingt. Außergewöhnliche Probleme lassen<br />
sich nun einmal nie mit gewöhnlichen<br />
Mitteln lösen.<br />
Aus dem Französischen von GERO VON RANDOW<br />
15, die Kanzler werden wollen<br />
Revolte bei den Grünen: Die Männer wollen wieder wer sein<br />
Dass das Verdrängte unerledigt wiederkehrt, ist<br />
ein aus der Psychoanalyse bekannter Phänomen,<br />
das nun auch bei den Grünen auftritt. Die Grünen<br />
halten sich viel zugute auf ihre Kultur der<br />
Frauenförderung: KandidatInnen-, ja selbst RednerInnenlisten<br />
sind quotiert, wichtige Parteiämter<br />
werden traditionell doppelt besetzt, nur Joschka<br />
Fischer war sozusagen eine übergeschlechtliche<br />
Notwendigkeit.<br />
Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen.<br />
Nun kehrt das Verdrängte zurück – in Gestalt von<br />
Thomas Austermann, Patrick Held, Nico Hybbeneth,<br />
Roger Jörg Kuchenreuther, Alfred Mayer,<br />
Markus Meister, Friedrich Wilhelm Merck, Hans-<br />
Jörg Schaller, Franz Spitzenberger, Werner Wink-<br />
MEINUNG<br />
ler und Peter Zimmer. Elf grüne Männer, die alle<br />
Spitzenkandidaten der Grünen werden, also die<br />
Rolle einnehmen wollen, die darin besteht, nach<br />
der Bundestagswahl 2013 nicht Kanzler zu werden,<br />
es vorher aber rein theoretisch werden zu<br />
können.<br />
Gäbe es nicht Claudia Roth, Renate Künast<br />
und Katrin Göring-Eckardt, dann könnte man<br />
sagen: Keine Frau ist dumm genug, einen solchen<br />
Job zu wollen. Da es die drei aber gibt, und da<br />
Jürgen Trittin keine übergeschlechtliche Notwendigkeit<br />
ist, und da es sich hier um die Partei<br />
der Grünen handelt, kann man davon ausgehen,<br />
dass es am Ende eine von ihnen werden wird.<br />
Oder auch zwei. FRANK DRIESCHNER<br />
Fotos: Wayne Ticock/AP/ddp (Pfefferspray gegen Demonstranten d. Occupy Bewegung; University of California; 18.11.2011); Olivier Roller/StudioX (u.)<br />
20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 11<br />
Stimmvieh, grasend<br />
Mitt Romney beleidigt die<br />
amerikanischen Wähler<br />
Mitt Romney ist Herausforderer von Barack<br />
Obama, außerdem ist er Mormone,<br />
mithin eine Art Christ. Trotzdem hat er,<br />
wie nun mittels versteckter Kamera bekannt<br />
wurde, ein radikal materialistisches<br />
Menschenbild. Romney hat nämlich im<br />
Kreise reicher Freunde erklärt, dass 47 Prozent<br />
der Amerikaner sowieso Obama wählten,<br />
weil 47 Prozent keine Steuern zahlten,<br />
folglich vom Staat abhängig seien und<br />
Obama als dem Mann des Staates ihre<br />
Stimme geben müssten. Es lohne sich für<br />
ihn, Romney, also nicht, sich um dieses sozialstaatsblöde<br />
Stimmvieh zu kümmern.<br />
Nun wollen wir hier gar nicht auf der<br />
Frage herumreiten, ob nach dieser Logik<br />
Romneys reiche Freunde, die vermutlich<br />
auch keine Steuern zahlen, nicht gerade deshalb<br />
Romney wählen, damit sie auch in Zukunft<br />
keine Steuern zahlen müssen. Nein, es<br />
geht um etwas anderes: um die ebenso obszöne<br />
wie verbreitete wie falsche Auffassung,<br />
dass der Mensch strikt nach seinen ökonomischen<br />
Interessen handelt und auch wählt.<br />
Man kennt all die Weisheiten: Erst<br />
kommt das Fressen, dann die Moral, das<br />
Sein bestimmt das Bewusstsein, mit Speck<br />
fängt man Mäuse. Tatsächlich stürzt der<br />
Mensch sich ins Unglück für die Liebe, oder<br />
er gibt sein Leben für die Freiheit, oder er<br />
verlässt Haus und Hof für den Glauben,<br />
oder er setzt seinen Familienfrieden aufs<br />
Spiel für die Fußballbundesliga.<br />
So ist der Mensch.<br />
Auch der amerikanische natürlich, auch<br />
der, der zu arm ist, um Steuern zu zahlen.<br />
Beispielsweise hat dieser arme Amerikaner<br />
zweimal hintereinander millionenfach<br />
George W. Bush und die Republikaner gewählt,<br />
obwohl er wusste, dass die eine Politik<br />
für die Reichen machen. Warum? Aus<br />
religiösen und patriotischen Gründen, jedenfalls<br />
hat er das fest geglaubt.<br />
Mitt Romney hat nun das Rätsel gelöst,<br />
warum ein Mann, der behauptet, so sehr<br />
christlich zu sein, so kalt rüberkommt. Weil<br />
er als Politiker offenbar kalt denkt, weil<br />
Christentum bei ihm eine Lebensform<br />
meint, das Vater-Mutter-Ehe-Kirchgang-<br />
Christentum, nicht jenes, das niemanden<br />
zurücklässt, das den Menschen frei machen<br />
kann vom schnöden Mammon, fähig, zu<br />
lieben und den anderen mit Liebe zu sehen.<br />
Nun sagen in den USA viele professionelle<br />
Beobachter des Wahlkampfes, dass<br />
Romney sich mit seinem Auftritt selbst versenkt<br />
habe. Wenn das stimmt, dann deshalb,<br />
weil sich zu viele Wähler in ihrer Ehre<br />
gekränkt fühlen, sie wollen kein grasendes<br />
Stimmvieh sein. Ehre ist eben auch wichtiger<br />
als keine Steuern. BERND ULRICH