DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks
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FEUILLETON<br />
Hier<br />
ist das<br />
Leben!<br />
Wie steht’s eigentlich um<br />
die Kunst der Gegenwart?<br />
Ein kleiner Erfahrungsbericht<br />
VON HANNO RAUTERBERG<br />
Ein Verlust ist zu vermelden, doch hält<br />
sich die Trauer in Grenzen. So gut wie<br />
niemand vermisst das große Kunstgerumpel<br />
von einst, all die schrillen,<br />
stinkenden, stechenden Gesten des<br />
Schocks und der Provokation. Heute mag kaum<br />
noch ein Künstler den Bürgerschreck geben. Kein<br />
Blutgesudel mehr, keine Selbstverstümmelungen<br />
im Namen einer höheren Wahrheit. Binnen weniger<br />
Jahre hat sich das Wollen und Wirken vieler<br />
Gegenwartskünstler gewandelt: Wo Gewalt war,<br />
ist jetzt Wohlgefallen. Wo Verzweiflung wohnte,<br />
weht ein milder Geist der Güte.<br />
Mitunter kann das sogar ein semireligiöser<br />
Geist sein, etwa auf der Mediations Biennale in<br />
Posen, die am vorigen Wochenende begann. Ungewöhnlich<br />
weihevoll geht es dort zu, vieles<br />
träumt, vieles raunt, vieles ist auf theatralische<br />
Weise gedämpft. Unter dem Motto »The Unknown«<br />
fahndet diese Biennale nach einer Kraft,<br />
die nicht zu greifen, die nur zu ahnen ist. Und<br />
nicht zufällig lassen sich die Kuratoren von christlicher<br />
Seite unterstützen.<br />
Allerdings, von Jesus, Maria und anderweitigem<br />
Kirchenpersonal wollen die Künstler nichts<br />
wissen. Für sie ist das Ungewusste vor allem das<br />
Ungefähre, sie halten die Dinge in der Schwebe.<br />
Der Koreaner Kibong Rhee zum Beispiel, der ein<br />
nachtblaues Aquarium nach Posen verbracht hat,<br />
BERLINER CANAPÉ<br />
INGEBORG HARMS<br />
Kollektive<br />
Feuerplätze<br />
Hier lesen Sie im Wechsel die Kolumnen<br />
»Klarer denken« von Rolf Dobelli,<br />
»Jessens Tierleben« von Jens Jessen und<br />
»Berliner Canapés« von Ingeborg Harms<br />
um dort im Strudel der Blasen einen höchst seltsamen<br />
Fisch treiben zu lassen, einen Bücherrochen,<br />
der beschwingt durchs Becken trudelt und<br />
mit seinen eng bedruckten Seiten winkt. Das<br />
schwere Wissen, hier scheint es schwerelos. Und<br />
egal, welche Wahrheit in diesem Buch stehen<br />
mag: Sie steht nicht fest. Sie ist nicht eingeklemmt<br />
zwischen zwei Deckeln, sondern entfaltet, wandelt,<br />
entblättert sich. Liquide Gelehrsamkeit.<br />
Daher kann man diesen Bücherfisch, obwohl<br />
wir ihn auf dieser Seite zeigen, eigentlich nicht abbilden.<br />
Man muss ihn mit den eigenen Augen sehen,<br />
wie er vom Wasserstrudel erfasst wird, sich<br />
sträubt, sich gleiten lässt. Er lässt sich nicht einfangen,<br />
von einer Kamera erst recht nicht.<br />
Und so ist es derzeit mit vielen Werken der<br />
Kunst. Auch wenn weiterhin fleißig gemalt und an<br />
Installationen gewerkelt wird, gibt es doch gerade<br />
etliche Künstler, die sich von der vertrauten Dingkultur<br />
abwenden. Sie wollen keine Objekte herstellen,<br />
nichts, was sich einfach an eine Wand hängen<br />
und auf der nächsten Auktion teuer verkaufen<br />
ließe. Nichts, was man rasch abknipsen und in die<br />
Welt hinaustwittern kann. Nein, ihre Kunst sucht<br />
das Hier und Jetzt, sie will im Augenblick aufgehen,<br />
körperlich spürbar, eine wahre, nondigitale Erfahrung.<br />
Es ist die Kunst der Präsenz.<br />
Wohin man auch schaut, überall ist derzeit Performance.<br />
Überall wandeln sich Ausstellungen in<br />
Clubs waren gestern, heute gibt es die »Valise<br />
Society«, eine Art mobilen Salon, den<br />
der seit einigen Jahren in Berlin lebende<br />
Kalifornier Tobias Tanner gegründet hat. In regelmäßigen<br />
Abständen lädt er an wechselnden Orten<br />
zum Cocktail oder Dinner ein und bringt so die<br />
mobile globale Szene in der deutschen Hauptstadt<br />
zusammen. Der jüngste Umtrunk im ULA, einem<br />
japanischen Restaurant in der Anklamer Straße,<br />
fand zu Ehren von Deanna Zandt, einer New<br />
Yorker Netzwerkberaterin für Aktivisten und<br />
NGOs, statt. Die Avantgarde braucht keine Drogen<br />
mehr, erklärte sie zu einem Glas Leitungswasser,<br />
»es geht um Emotionen, um Möglichkeiten,<br />
in Kontakt zu treten. Als die sozialen Medien<br />
auf kamen, wurden sie sofort begeistert angenommen.<br />
Wir wollen nicht allein sein.« Auf der TED,<br />
einer Art philosophischer Trendkonferenz, die<br />
diesen Sommer in Berlin stattfand, hat Zandt ihre<br />
eigene Biografie als zeittypisches Muster gedeutet:<br />
»Jeder Job, den ich je hatte, hat sich durch Freunde<br />
ergeben. Unsere Karrieren verlaufen nicht länger<br />
geradlinig.« Sie stimmt Marshall McLuhan zu, der<br />
Aufführungen, werden Museen zu Bühnen, auf<br />
denen gezetert, gelacht und sehr viel Blödsinn verhandelt<br />
wird. Manchmal geht es auch schwer meditativ<br />
zu, wie kürzlich in Berlin, als sich die riesige<br />
Halle des Hamburger Bahnhofs mit einer Kunst<br />
füllte, die nichts als Raum, Zeit und Licht sein<br />
wollte. Im tiefsten Dunkel erstrahlten klirrend helle<br />
Spots, als hätte der Leuchtstrahl eines Ufos das Museum<br />
erfasst. Und die Menschen duschten, badeten<br />
im Licht des Künstlers Anthony McCall, versuchten<br />
es zu ergreifen. Eine irreal-reale Erfahrung.<br />
So ähnlich ist es auch in vielen Räumen des<br />
belgischen Künstlers Hans op de Beeck, dessen<br />
traumhaft verlangsamte Kunst gerade erstmals groß<br />
in Deutschland zu sehen ist, im Kunstverein Hannover.<br />
Hier gibt es Räume, in denen der Künstler<br />
auf recht gewöhnliche Weise seine Modelle und<br />
Zeichnungen zeigt; andere Räume hingegen sind<br />
nicht mehr Raum, sie sind ganz und gar Bild, und<br />
dieses Bild verschluckt uns. Ein tableau vivant<br />
könnte man es nennen, wäre hier nicht alles, das<br />
zerwühlte Bett, der Tisch, das Sofa, selbst die Mandarine,<br />
steinhart und gänzlich grau. Alles Leben<br />
scheint erloschen, und wir sitzen mittendrin in<br />
dieser Erloschenheit, schauen aus dem Fenster und<br />
sehen einem Springbrunnen beim Plätschern zu. Es<br />
ist wie in einem David-Lynch-Film, mit dem Unterschied,<br />
dass es hier nur einen einzigen Darsteller<br />
gibt. Man kannte ihn bislang als »den Betrachter«.<br />
die mediale Revolution vorhersagte und schon vor<br />
50 Jahren das Ende der Linearität proklamierte.<br />
Ihm genügte das Phänomen des Radio-DJs, um<br />
die Rückkehr der Stammesgesellschaft mit ihren<br />
Buschtrommeln und kollektiven Feuerplätzen vor<br />
sich zu sehen. Kaum waren wir im Gespräch, da<br />
hatte Zandt mir schon einen Link geschickt, den<br />
ich, ganz linear, erst zu Hause studierte. Er handelte<br />
vom Neuroökonomen Paul Zak, der nachwies,<br />
dass intensives Twittern den Ausstoß von Oxytocin<br />
beflügelt, einem Empathiehormon, das für Gesundheit<br />
und ein langes Leben sorgt.<br />
Wissenschaftler der Washington University allerdings<br />
kamen zum selben Ergebnis, als sie mit<br />
Romanlesern experimentierten. Wie bei Social-<br />
Media-Anhängern reagierte auch ihre Chemie auf<br />
die Geschicke der fiktionalen Helden, als hätten sie<br />
sie leibhaftig miterlebt. Dass der einzige Buchtipp<br />
an diesem Abend vom jüngsten Teilnehmer, dem<br />
1989 in Ostberlin geborenen »Erfahrungsmanager«<br />
Felix Wieduwilt, stammt, zeigt allerdings noch keine<br />
Trendwende an. All die neuen Berufe, die im ULA<br />
zu Lachs-Tempura zusammenkamen, drehten sich<br />
Schwebende<br />
Wahrheiten:<br />
Der Koreaner<br />
Kibong Rhee lässt<br />
ein Buch durchs<br />
Aquarium trudeln<br />
Dieser Betrachter wird nun zum Erkunder und<br />
Entdecker, zu einem, der die Kunst mit allen Sinnen<br />
zu spüren bekommt – und manchmal auch<br />
Handstand auf ihr probt. So wie auf dem Horizon<br />
Field von Antony Gormley, das in diesem Sommer<br />
rund 120 000 Besucher in die Hamburger Deichtorhallen<br />
lockte. Nichts als eine große, polierte<br />
Fläche, aufgehängt in acht Meter Höhe – und doch<br />
sah man die Menschen selten derart begeistert. Sie<br />
stiegen die Treppe hinauf, wanderten in Socken<br />
oder barfuß über das schwarze Feld, viele saßen,<br />
hüpften oder beobachteten nur, wie andere diese<br />
hochabstrakte und doch ganz und gar unabstrakte<br />
Kunst für sich vereinnahmten. Manche fotografierten,<br />
aber die schwankende Erfahrung, das leichte<br />
Zittern, das manchmal durch die glatte Fläche lief,<br />
lässt sich so wenig auf einem Bild einfangen wie die<br />
heiter-beschwingte Stimmung.<br />
Die Erschöpfungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts<br />
mag diese Art von Kunst. Sie mag die Besinnung<br />
ebenso wie das Ereignishafte. Und sie<br />
genießt es, wenn sich die alte Konfrontation –<br />
hier das Bild, dort der Betrachter – auflöst. Die<br />
Vereinzelung weicht der Kollektiverfahrung, einem<br />
Miteinander auf Zeit. Das kann manchmal<br />
schwülstig sein, manchmal kindergartenhaft albern,<br />
gelegentlich auch ergreifend. Die Kunst aber<br />
zeigt sich in diesen Werken, die keine Werke sein<br />
wollen, so lebendig wie schon lange nicht mehr.<br />
darum, wie sich das eigene Leben durch Netzwerken<br />
intensivieren lässt. Wieduwilt organisiert Unternehmenstreffen<br />
und private Dinner von Paris bis<br />
Tokio; Hunderson Sabbat bietet New-York-Besuchern,<br />
wie Tobias Tanner in Berlin, einen »kulturellen<br />
Escort-Service« an. Die Londonerin Anju Rupal<br />
ist ein »Angel Investor«, sie sammelt das nötige Geld,<br />
um Frauenhäuser und Kinderhorte in Indien und<br />
der Schweiz auf die Beine zu stellen: »Dafür habe<br />
ich keine Ausbildung«, sagt sie, »aber ein Netzwerk.«<br />
Sie plant ein indisches Äquivalent zum Body Shop<br />
und hat nebenbei eine Onlinepartnervermittlung<br />
gegründet, die auch die DNA der Interessierten<br />
berücksichtigen will.<br />
Wissenschaftliche Hilfestellungen sind in dieser<br />
Welt der Pragmatiker so wenig tabu wie pädagogische<br />
Katalysatoren. Spielerisches Lernen steht<br />
bei Deanna Zandt hoch im Kurs, auch wenn es<br />
wundert, dass die NGO-Beraterin zur Verbesserung<br />
des schulischen Alltags ausgerechnet Monopoly<br />
empfahl. Um das Stochern im Small Talk zu<br />
vermeiden, bat Tanner jeden Gast, drei Dinge zu<br />
benennen, zu denen er sich gern befragen lasse.<br />
Abb. (Ausschnitt): Ki-bong Rhee/ZKM, Karlsruhe/courtesy the artist and Kukje Gallery, Seoul<br />
20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 57<br />
Das Letzte<br />
Das EU-Parlament, weil man nicht immer nur<br />
über die Wirtschaftskrise beraten kann, möchte<br />
neue Lärm-Grenzwerte beschließen, da die<br />
Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgefunden<br />
hat, dass laute Motorengeräusche zu<br />
schlimmen Krankheiten führen. Etwa 50 000<br />
tödliche Herzinfarkte pro Jahr werden EU-weit<br />
von lauten Motoren verursacht!<br />
Vor wenigen Monaten haben Wissenschaftler<br />
vom Tufts Medical Center in Boston<br />
in einer Studie behauptet, dass die Gefahr, einen<br />
Herzinfarkt zu erleiden, um das Dreifache<br />
ansteigt, wenn man nur unregelmäßig Sex hat.<br />
Wer schon länger abstinent war, sollte lieber<br />
die Finger vom Geliebten lassen.<br />
Ein niederländisch-dänisches Forscherteam<br />
veröffentlichte Ende Juli in der renommierten<br />
Fachzeitschrift Archives of Internal Medicine<br />
eine Studie, in der aufgezeigt wurde, dass das<br />
Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, in den<br />
ersten zwei Wochen nach einer Hüft- oder<br />
Kniegelenkoperation deutlich erhöht ist.<br />
Im Februar haben amerikanische Universitäten<br />
in Miami und New York nachgewiesen, dass<br />
der regelmäßige Konsum von Diätgetränken<br />
das Risiko von Herzinfarkten massiv erhöht.<br />
Ein kanadisches Forscherteam hat nur vier<br />
Monate später die Entdeckung gemacht, dass<br />
Schichtarbeit ein Risikofaktor für Gefäßverkalkungen<br />
– und damit naturgemäß auch für<br />
den Herzinfarkt ist.<br />
An der Harvard-Universität in Boston hat<br />
man im März eindringlich vor dem Verzehr<br />
von rotem Fleisch gewarnt. Das steigere das<br />
Herzinfarktrisiko.<br />
Stockholmer Wissenschaftler hatten zuvor<br />
darauf aufmerksam gemacht, dass Zahnlücken<br />
zu erhöhtem Herzinfarktrisiko führen, es gibt<br />
erwiesenermaßen einen Zusammenhang zwischen<br />
Zahnhygiene und Herzkrankheiten.<br />
Vorschlag für Lebensmüde: Beißen Sie so<br />
hemmungslos in ein blutiges Steak, dass Ihnen<br />
ein Zahn ausfällt. Machen Sie dann eine Nachtschicht<br />
in einer Autobahngaststätte. Während<br />
des Kellnerns renken Sie sich, da Sie übermüdet<br />
sind, das Knie aus, und zwar so, dass eine Operation<br />
unerlässlich ist. Im Krankenhaus sollten<br />
Sie auf Diätgetränken bestehen. Sobald Sie<br />
entlassen werden, stürzen Sie sich bitte in eine<br />
Affäre – aber nur, wenn der letzte Beischlaf<br />
schon etwas her war. La petite mort, der kleine<br />
Tod, wie die Franzosen zum Höhepunkt sagen,<br />
sollte mühelos mit dem großen in eins fallen.<br />
Sollte Ihr Herz, wider Erwarten, all diese<br />
Schandtaten überstehen, hilft nur das Warten<br />
auf ein natürliches FINIS<br />
www.zeit.de/audio<br />
Ein Architekt aus Mailand schlug Mailand, Architektur<br />
und Feminismus vor. Der Leiter eines norwegischen<br />
Softwareunternehmens bot Künstliche Intelligenz,<br />
Ski und französische Frauen an. So füllte sich<br />
der Raum schnell mit Informationsknotenpunkten.<br />
Ich brauchte Tage, um das dichte Netz am PC zu entwirren.<br />
Jemand, der Einkaufsassistent für Versace<br />
gewesen war, kam nicht aus London oder New York,<br />
sondern aus »Boetzzettelerfehn« in Ostfriesland, wie<br />
er mir aufschrieb, 48 Einwohner, sagte er. Doch das<br />
musste eine Insider-Schreibweise sein, denn das Netz<br />
wusste nur von einem seit 1180 aktenkundigen<br />
Boek zeteler fehn. In der Willkommensadresse des<br />
Ortes wird denn auch betont, dass das Hochmoordorf<br />
»nicht auf dem Reißbrett« entstanden sei und<br />
dass »die Tatsache, dass sich fast jeder Boek zete ler in<br />
irgendeiner Weise in einem Verein engagiert«, sehr<br />
für die Dorfkultur spreche. Wir können also davon<br />
ausgehen, dass sich auch unsere Vorfahren schon zu<br />
vernetzen wussten und dabei nicht linear vorgingen.<br />
Clubs mögen out sein und mediale Salons im Kommen,<br />
aber die Oxytocin-Ausschüttung, die das deutsche<br />
Vereinswesen hervorruft, übersteht jede Krise.<br />
Illustration: QuickHoney für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.quickhoney.com/Peter Stemmler