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DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

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CHANCENSCHULE<br />

HOCHSCHULE<br />

BERUF<br />

Der »Anti-Sarrazin«<br />

Der Pädagoge Paul Schwarz versucht den Deutschen etwas beizubringen – mit Filmen über Schule VON FRIEDERIKE LÜBKE<br />

Wenn Paul Schwarz über sich<br />

spricht, dann benutzt er gerne<br />

einen Begriff, den er als Auszeichnung<br />

empfindet. Vor einem<br />

Jahr zeigte er im Stuttgarter<br />

Rathaus einen Film über Migranten. Danach<br />

befand eine Zuschauerin: »Sie sind ja ein richtiger<br />

Anti-Sarrazin.« Das Gegenteil von Thilo Sarrazin<br />

und seinen Thesen über Migrantenkinder – das<br />

trifft es, dachte Schwarz.<br />

Paul Schwarz ist Pädagoge, doch er wechselte<br />

von der Schule zum Fernsehen. Seit mehr als<br />

20 Jahren produziert er Filme über Bildung, insgesamt<br />

über 120, so viele wie kaum jemand sonst<br />

in Deutschland. 2007 bekam er dafür das Bundesverdienstkreuz<br />

am Bande. Dreimal waren seine<br />

Filme für den Grimme-Preis nominiert, darunter<br />

der ARD-Dreiteiler »Fremd und doch vertraut«.<br />

Aber bekannt wie Sarrazin ist er nicht.<br />

Schwarz glaubt, das liege an den Medien. »Ein<br />

türkischer U-Bahn-Schläger macht Schlagzeilen.<br />

Ein türkischer Arzt nicht«, sagt er. Gerade um<br />

solche Menschen geht es aber in seinen jüngsten<br />

Filmen. Bildung ist sein Thema, Erfolge zeigt er<br />

am liebsten. Oberstes Prinzip: Mut machen. Zeigen:<br />

Es geht doch.<br />

Paul Schwarz ist 68. Das weiße Haar fällt ihm<br />

lang über die Ohren. Er könnte aufhören zu arbeiten,<br />

aber er will nicht. Wenn Sarrazin schreibt,<br />

dass ungebildete Eltern mit großer Wahrscheinlichkeit<br />

ungebildete Kinder haben, gibt Schwarz<br />

ihm im Prinzip recht. Auch er sieht das häufig.<br />

Der Sohn des Arztes wird wahrscheinlich studieren.<br />

Der Sohn der Putzfrau nicht. Nur glaubt<br />

Schwarz, dass das nicht an den Eltern liegt. Seiner<br />

Ansicht nach scheitern Kinder am dreigliedrigen<br />

Schulsystem und nicht selten auch an Vorurteilen.<br />

Er hat Ärztinnen und Rechtsanwälte getroffen,<br />

die zuerst auf die Hauptschule geschickt<br />

wurden, »nur weil ihre Eltern Türken waren«. So<br />

etwas ärgert ihn. Vielleicht auch wegen seiner eigenen<br />

Geschichte.<br />

In Japan hat er unterrichtet,<br />

heute filmt er in der ganzen Welt<br />

Sein Vater fiel im Krieg, seine Mutter hatte wenig<br />

Geld. »Kleine Verhältnisse« nennt Schwarz das.<br />

Erst auf der Abendschule machte er das Abitur,<br />

studierte und wurde Lehrer. Insgesamt zehn Jahre<br />

lang hat er unterrichtet. Ende der siebziger<br />

Jahre ging er mit seiner Frau nach Japan und<br />

lehrte Deutsch an der Universität. Ende der achtziger<br />

Jahre verbrachte er mit ihr noch einmal vier<br />

Jahre als Dozent in Argentinien. »Ich kenne die<br />

Welt so ’n bisschen«, sagt er heute. Zurück in<br />

Deutschland, betreute er Sendungen über guten<br />

Unterricht und wurde vom Lehrer zum Beobachter<br />

der Lernkultur.<br />

Dabei stieß er auf einen Widerspruch: Im<br />

Land der Dichter und Denker hat Schule einen<br />

schlechten Stand. Einmal drehte Schwarz in einem<br />

internationalen Physikkurs in Göttingen.<br />

Horst Köhler, damals Bundespräsident, besuchte<br />

den Unterricht und setzte sich zu den Schülern.<br />

»In Physik war ich nie gut«, sagte der Bundespräsident.<br />

Koketterie vielleicht, aber Schwarz fällt so<br />

etwas auf: Prominente, die mit schlechten Noten<br />

prahlen. Wettermoderatoren, die es als gute<br />

Nachricht bringen, wenn die Schule ausfällt.<br />

Wer es zu etwas gebracht hat, behauptet, dass es<br />

nicht an der Schule lag. »Keiner will ein Streber<br />

sein«, sagt Schwarz. Alle fänden Bildung wichtig,<br />

aber in den Massenmedien tauche sie kaum auf.<br />

»Wann lief der letzte Film über Schule, in dem es<br />

nicht um einen Amoklauf ging?«, fragt er. »Wann<br />

ging es in einer Talkshow mal um Bildung?«<br />

Er bemerkt das auch, weil es ihn selbst betrifft.<br />

In den letzten Jahren war er viel im Auftrag<br />

staatlicher oder privater Bildungseinrichtungen<br />

unterwegs. Das Interesse der Sender aber hat<br />

nachgelassen. Für neue Filmideen muss er Sponsoren<br />

suchen.<br />

»Paul Schwarz ist jemand, der dranbleibt«,<br />

sagt der Pädagoge und Schulreformer Heinz<br />

Klippert. Die beiden sind auf einer Wellenlänge,<br />

seit 20 Jahren kennen sie sich, immer wieder arbeiten<br />

sie zusammen. Wenn Schwarz über die<br />

Bildungschancen von Migranten berichte, geschehe<br />

das »aus innerem Antrieb und persönlichem<br />

Anliegen«, glaubt Klippert. Er hat erlebt,<br />

wie Schwarz mit Politikern diskutiert. »Da legt er<br />

den Finger in die Wunde. Er ist unerbittlich,<br />

wenn sich ihre Ansprüche nicht mit der Realität<br />

decken.« Gleichzeitig sei Schwarz pragmatisch.<br />

Es gehe ihm um normale Schulen, nicht um einzelne<br />

Leuchtturmprojekte.<br />

»Die Schüler sind nicht faul<br />

und die Lehrer nicht dumm«<br />

Schwarz hat sich ein Bild gemacht und wird nicht<br />

müde, zu wiederholen, was ihm wichtig ist. Er<br />

wünscht sich auch in Deutschland eine Schule<br />

für alle und langes gemeinsames Lernen. Er zitiert<br />

den ehemaligen UN-Sonderberichterstatter<br />

für das Recht auf Bildung, der ihm sagte: »Die<br />

deutsche Schule teilt, sie führt nicht zusammen.«<br />

Er wünscht sich, dass die Bildungsforscher und<br />

Pädagogikprofessoren mehr Mitsprache in der<br />

Politik einfordern. Er selbst muss nicht dozieren,<br />

er kann die Bilder wirken lassen. Seine Filme<br />

sollen Politikern einen Anstoß geben, indem sie<br />

zeigen, was schon gut läuft.<br />

Im Gegensatz zum Unterrichten ist Filmemachen<br />

Teamarbeit. Schwarz recherchiert, schreibt<br />

das Drehbuch, führt die Interviews und entscheidet<br />

über den Aufbau. Filmen und Schneiden<br />

übernehmen Kameraleute und Cutter. »Mit der<br />

Kamera kenne ich mich nicht aus«, sagt er freimütig,<br />

»Das beste Bild findet der Kameramann.«<br />

Dominanz ist nicht seine Sache. »Genügsam und<br />

sehr gelassen« sei Schwarz, bescheinigt ihm Jens-<br />

Ove Heckel, der ihn letztes Jahr bei einem<br />

schwierigen Dreh erlebt hat. Gemeinsam waren<br />

sie in Dschibuti, am Horn von Afrika. Heckel<br />

leitete dort Umweltbildungs-Workshops für<br />

Grundschullehrer, Schwarz machte einen Film<br />

darüber. Anstrengend war für beide auch eine anschließende<br />

mehrtägige Exkursion in den entlegenen<br />

Forêt du Day, besonders weil die Straßen<br />

dorthin und die Unterkunft sehr bescheiden waren.<br />

Aber Schwarz mache so etwas mit.<br />

Für seine Filme ist er viel unterwegs, von Afrika<br />

bis Schweden. Ständig fallen ihm Erlebnisse<br />

aus anderen Ländern ein. Er hat gesehen, wie sich<br />

Schüler in Japan für ihre Schule einsetzen. Es<br />

läuft Polkamusik von Strauß, und die Jugendlichen<br />

fegen die Flure. »Undenkbar bei uns«, sagt<br />

Schwarz. Er hat gesehen, wie anschaulich Schüler<br />

in Schweden lernen, wie gut das Schulessen in<br />

Finnland ist. »Diese Länder lobt man, aber man<br />

lernt nicht von ihnen«, sagt er. Ein Lehrer in<br />

Skandinavien erklärte ihm: »Ihr Deutschen habt<br />

die Reformpädagogik erfunden, wir haben sie umgesetzt.«<br />

Dabei sei nicht alles schlecht in Deutschland,<br />

findet Paul Schwarz. Deshalb sagt er auch Sätze wie:<br />

»Die Schüler sind nicht faul und die Lehrer nicht<br />

dumm« und: »Multikulti ist nicht gescheitert.«<br />

Es ist für Schwarz ein Dilemma. Einerseits ärgert<br />

er sich über das deutsche Schulsystem, er findet in<br />

anderen Ländern bessere Beispiele – andererseits<br />

aber will er die Schule nicht dauernd kritisieren, wie<br />

das so viele tun. Er versucht es im Guten. Wäre das<br />

deutsche Bildungswesen ein Kind in seiner Klasse,<br />

er hätte es noch nicht aufgegeben. Er lobt den Schüler<br />

Deutschland, damit er sich vielleicht noch ein<br />

bisschen mehr anstrengt.<br />

S. 73 BERUF<br />

S. 87 LESERBRIEFE<br />

S. 88 <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> DER LESER<br />

Dank Internet und 3-D-Druckern werden<br />

Ingenieure zu Erfindern, die keine Industrie<br />

zur Produktentwicklung brauchen ab S. 77 STELLENMARKT<br />

2005 war Schwarz für das Auswärtige Amt in Afghanistan.<br />

Sein Film zeigt ein Schulhaus, in dem<br />

sich die Mädchen drängen. Ihre Schuhe sind staubig.<br />

Das Klassenzimmer ist mehr Verschlag als<br />

Raum, unterrichtet wird bis abends um sieben.<br />

Trotzdem lernen die Schülerinnen eifrig. Wenn<br />

Schwarz sich diesen Film ansieht, ist er immer noch<br />

beeindruckt. »Die Mädchen dort«, sagt er, »können<br />

alles erreichen, wenn man sie lässt.« In Berlin hat er<br />

vor Kurzem Hauptschüler gefragt, was sie werden<br />

wollen. »Hartz IV«, haben sie zu ihm gesagt. Paul<br />

Schwarz bleibt noch viel zu tun.<br />

www.zeit.de/audio<br />

Paul Schwarz (Mitte) war<br />

früher Lehrer, jetzt dreht er<br />

Filme über Bildung, hier in<br />

einer Realschule in Landau<br />

Foto: Markus Hintzen für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>/www.markus-hintzen.com<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 69<br />

BILDUNGSPOLITIK<br />

Letzter Mann<br />

Die CDU stellt nur noch einen<br />

Kultusminister<br />

Vor Kurzem hat Bundesbildungsministerin<br />

Annette Schavan angekündigt, nicht mehr als<br />

stellvertretende CDU-Vorsitzende zu kandidieren.<br />

Jetzt sei der richtige Zeitpunkt, sich aus<br />

der Parteiführung zurückzuziehen, sagte sie<br />

zur Begründung, weil auf dem vergangenen<br />

Bundesparteitag der CDU mit der Modernisierung<br />

der Bildungspolitik eines ihrer Kernanliegen<br />

verwirklicht worden sei.<br />

Verlässt sie also ein gut bestelltes Haus?<br />

Tatsächlich hat sich ihre Partei vom dreigliedrigen<br />

Schulsystem verabschiedet, tritt für<br />

frühkindliche Bildung und Ganztagsschulen<br />

ein. Das ist vernünftig, wenn auch – oder gerade<br />

weil – damit die Grenzen zur Schulpolitik<br />

von SPD und Grünen verschwimmen.<br />

Da aber die inhaltlichen Unterschiede<br />

zwischen den Parteien schwinden, muss man<br />

mit Persönlichkeiten punkten. Und da ist die<br />

Bilanz der CDU unterirdisch. Als Schavan im<br />

Jahr 2005 Bundesministerin wurde, waren<br />

sieben Schulminister – darunter die von Baden-Württemberg,<br />

Hessen und Nordrhein-<br />

Westfalen – Mitglied der CDU. Doch diese<br />

Gestaltungsmacht wurde nicht genutzt, und<br />

Jahr um Jahr wurde es einer weniger.<br />

Nun ist der Niedersachse Bernd Althusmann<br />

der einzige Kultusminister mit CDU-<br />

Parteibuch. Am 17. Januar 2013 sind in seinem<br />

Bundesland Wahlen ... Vielleicht ist jetzt<br />

der Zeitpunkt für die CDU, sich einmal richtig<br />

Sorgen um ihre künftige Bildungspolitik<br />

zu machen. THOMAS KERSTAN<br />

MEHR CHANCEN:<br />

Neu am Kiosk:<br />

<strong>ZEIT</strong> CAMPUS<br />

Wie Studenten<br />

schummeln und warum<br />

es so schwierig ist, sie<br />

davon abzubringen<br />

Im Netz:<br />

Wo studieren? Welche Hochschule in einem<br />

Fach führt, verrät das CHE-Hochschulranking<br />

www.zeit.de/hochschulranking

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