DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks
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WENN JEHUDA SCHAUL die jungen<br />
Soldaten der israelischen Armee in He bron<br />
sieht, kommen die Erinnerungen wieder zurück.<br />
Jehuda, ein bärenhafter 29-Jähriger mit<br />
Vollbart, war auch einmal hier eingesetzt. Er<br />
hat in dieser Stadt Dinge erlebt, die er bis heute<br />
nicht loswird: »Ich glaubte zu wissen, wer<br />
ich bin, was gut und was böse ist und wofür<br />
ich stehe. Nach 14 Monaten He bron war<br />
nichts davon übrig. Als hätte man alles, was<br />
ich war, durch einen Schredder geschoben.«<br />
Ein Besuch in He bron ist für Jehuda<br />
immer auch eine Suche nach dem verlorenen<br />
Selbst. Es ist ein herrlicher Morgen. Wir gehen<br />
durch das Viertel Bab al-Khan im Herzen<br />
der Altstadt. Palästinenser dürfen hier nur<br />
eine Seite der Straße benutzen, hinter einer<br />
Betonbarriere. Die Straßen der alten Kasbah<br />
sind leer, die Geschäfte versiegelt und lange<br />
schon aufgegeben. Das Herz He brons ist abgestorben.<br />
Dies ist eine Geisterstadt, belebt<br />
nur von den Soldaten, die in kleinen Gruppen<br />
patrouillieren. Alles normal, wird es nach<br />
diesem Tag in den Lageberichten heißen.<br />
Mit dieser Normalität kann Jehuda sich<br />
nicht abfinden. Er und ein paar Freunde haben<br />
nach ihrem Militärdienst eine Gruppe<br />
gegründet, die sich auf Hebräisch Schowrim<br />
Schtika nennt, auf Englisch Breaking the Si-<br />
36<br />
In Hebron ist der Nahostkonflikt wie unter einem Brennglas zu beobachten:<br />
Blick von der israelisch besetzten Zone in Hebron auf den palästinensischen Teil<br />
lence – »Das Schweigen brechen«. Sie haben<br />
einen Kampf begonnen, der fast aussichtslos<br />
scheint, einen Kampf gegen die Sachzwänge<br />
der Realpolitik und die Trägheit des Herzens<br />
nach 45 Jahren der Besatzung.<br />
Jehuda und seine Freunde vermeiden<br />
abgedroschene Formeln wie »Zwei staa tenlösung«<br />
und »Friedensprozess«, die das Publikum<br />
nicht nur in Israel mittlerweile in<br />
Sekunden schlaf versetzen. Sie haben etwas<br />
Interessanteres, aber auch Schwierigeres zu<br />
bieten: die Erfahrung der Soldaten, die die<br />
Besatzung am Laufen halten. Den Blick vom<br />
Checkpoint aus, durch das Visier des Gewehrs,<br />
das Westjordanland im grünen Licht<br />
eines Nachtsichtgeräts.<br />
Soldaten sprechen über ihren Dienst:<br />
Das ist überall heikel, umso mehr aber in Israel,<br />
dessen Existenzrecht immer noch infrage<br />
gestellt wird. Ohne Bereitschaft zur Selbstverteidigung<br />
gäbe es den jüdischen Staat längst<br />
nicht mehr. Die Armee ist auch heute noch die<br />
wichtigste In sti tu tion im Land. Sie hat es gegründet,<br />
sie erhält es, sie bewahrt die zionistischen<br />
Werte, sie macht Juden aus aller Welt zu<br />
Israelis. Erwachsen werden, Soldat werden,<br />
Bürger werden, das ist alles eins, wenn die<br />
18-jährigen Männer für drei Jahre und die<br />
Frauen für 21 Monate eingezogen werden.<br />
Die Aktivisten von Breaking the Silence waren<br />
alle in He bron eingesetzt. Wie Jehuda ist<br />
auch die Geschäftsführerin Dana Golan,<br />
ebenfalls 29 Jahre alt, hier geprägt worden.<br />
Die beiden sind zusammen mit dem 33-jährigen<br />
Michael Manekin der harte Kern der<br />
Gruppe. »Die Menschen in diesem Land«, so<br />
beschreibt Dana Golan ihre Mission, »müssen<br />
sich klarmachen, was sie ihren Söhnen und<br />
Töchtern antun, die in der Besatzung dienen.<br />
Viele wollen lieber nicht genau wissen, was<br />
der Preis für das Besatzungsregime ist, was wir<br />
dort tun – und was das uns antut.«<br />
Als Jehuda anfing, im Sommer 2001,<br />
trug er voller Stolz die olivgrüne Uniform. Es<br />
tobte die Zweite Intifada, ein blutiger Aufstand,<br />
der innerhalb von fünf Jahren 1036<br />
Israelis und 3592 Palästinenser das Leben<br />
kosten sollte. Jehudas Brigade hatte die Aufgabe,<br />
die jüdischen Siedler der Stadt vor den<br />
Angriffen von Palästinensern zu schützen.<br />
Hebron ist für Juden und Muslime ein<br />
heiliger Ort. Die Gräber von Abraham, Isaak<br />
und Jakob, Sara, Rebekka und Lea werden<br />
seit biblischer Zeit hier verehrt. Für diese<br />
Stadt, einen der am längsten ununterbrochen<br />
bewohnten Flecken der Erde, ist das Heilige<br />
immer wieder zum Fluch geworden. Weil<br />
Abraham auch im Islam als Ur vater und erster