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DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

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Foto: Thomas Ernsting/laif<br />

WIRTSCHAFT<br />

Boom voraus!<br />

Die Krise erreicht Deutschland? Kann sein – viele Experten sehen trotzdem einen Aufschwung kommen VON KOLJA RUDZIO<br />

Die Krise, heißt es, frisst sich in die<br />

deutsche Wirtschaft. Sie ist jetzt<br />

angekommen. Wir können ihr<br />

nicht entgehen. Das hört man im<br />

Augenblick allenthalben.<br />

Doch stimmt es wirklich? Joachim Möller redet<br />

nicht so. Er spricht vom Aufschwung.<br />

Es ist Anfang September, der Direktor des<br />

Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit<br />

in Nürnberg hält einen Vortrag zur aktuellen<br />

Lage. Seine Zuhörer erwarten Düsteres. Aber der<br />

Professor erklärt, die deutsche Wirtschaft sei im<br />

Grunde kerngesund. Alle Voraussetzungen für<br />

eine »sehr positive Dynamik« seien da. Nur gebe<br />

es diese große Angst: die lähmende Sorge um den<br />

Euro. Gelänge es, diese Angst zu bändigen, sagt<br />

Möller, würden »starke Auftriebskräfte« frei. Eine<br />

Blockade löse sich – und der nächste Aufschwung<br />

könnte beginnen.<br />

Genau das geschieht womöglich gerade.<br />

Ausgerechnet in diesen Tagen könnte der<br />

Wendepunkt auf dem Weg zu einem neuen<br />

Boom erreicht sein. Die Euro-Krise ist zwar nicht<br />

vorüber, aber die akuten Sorgen um die Währung<br />

sind deutlich kleiner geworden.<br />

Erst beschloss die Europäische Zentralbank<br />

(EZB), sie werde alles tun, um die Zinslast notleidender,<br />

reformbereiter Euro-Staaten zu senken.<br />

Wenn nötig, werde sie mit allen Mitteln<br />

Anleihen dieser Staaten kaufen – und die Mittel<br />

der EZB sind bekanntlich unbegrenzt, es handelt<br />

sich um das von ihr selbst geschaffene Geld.<br />

Dann gab das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe<br />

den Weg für ein gigantisches Rettungsinstrument<br />

frei, den Europäischen Stabilitätsmechanismus<br />

(ESM). Er verspricht krisengeschüttelten<br />

Staaten weitere Milliardenhilfen.<br />

Damit erreichen die Rettungsmaßnahmen<br />

eine neue Dimension. Etliche Male schon versuchte<br />

die Politik, mit Gipfelbeschlüssen, Hilfsprogrammen<br />

und einem Schuldenschnitt für<br />

Griechenland die Krise einzudämmen. Doch die<br />

Euro-Ängste blieben. Dieses Mal, glauben viele<br />

Experten, könnte es tatsächlich anders laufen.<br />

»Die Sorge, dass die Euro-Zone kurzfristig auseinanderfliegt,<br />

ist erst einmal weg«, urteilt Kai<br />

Carstensen, Konjunkturchef des ifo-Instituts in<br />

München. »Die Rettungspolitik«, bestätigt Jörg<br />

Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, »hat<br />

eine andere Qualität erreicht.« Der September<br />

<strong>2012</strong>, mutmaßen Konjunkturbeobachter der italienischen<br />

Großbank UniCredit, könne zum<br />

»Wendepunkt« werden. Der Beschluss der EZB<br />

sei ein game changer, eine Entscheidung, die die<br />

Lage komplett verändere.<br />

Wenn die Ökonomen einer italienischen Bank<br />

sich über neue Hilfsmilliarden freuen, mag man<br />

das als interessengeleitet abtun. Aber Carstensen<br />

und Krämer sind Volkswirte, die dieser Rettungspolitik<br />

eigentlich sehr kritisch gegenüberstehen. Ihr<br />

Urteil als Konjunkturforscher ist klar: Die Angst<br />

um den Euro sei nicht verschwunden, aber kleiner<br />

geworden, und damit sei der Weg für einen Aufschwung<br />

frei. Das Szenario, das der Arbeitsmarktforscher<br />

Joachim Möller vor zwei Wochen in Nürnberg<br />

präsentierte, entspricht ziemlich präzise ihrem<br />

Bild der Lage.<br />

»Etliche Studien«, sagt Carstensen, »zeigen,<br />

wie stark Unsicherheit die Konjunktur belastet.«<br />

Viele Unternehmer würden bei unklarer Lage Investitionen<br />

aufschieben und erst einmal abwarten.<br />

Dabei sorgt die Euro-Krise für eine beson-<br />

ders extreme Form der Verunsicherung. Es geht<br />

ja immerhin um den möglichen Zerfall eines<br />

ganzen Währungssystems. »Wer von uns hat<br />

das schon mal erlebt?«, fragt Commerzbank-<br />

Ökonom Krämer. »Das ist nicht die normale<br />

Unsicherheit, die man kennt. Das gehört zu<br />

dem wirklich Unbekannten, zu den unknown<br />

unknowns«.<br />

Erste Anzeichen, dass die daraus resultierende<br />

Verunsicherung nun nachlässt, gibt es bereits. Die<br />

Zinsaufschläge der Risikoländer sind gesunken, die<br />

Aktienkurse schnellten zuletzt nach oben (siehe<br />

Seite 28). Finanzexperten zeigen sich weniger pessimistisch:<br />

Das zeigt die jüngste Umfrage des Zentrums<br />

für Europäische Wirtschaftsforschung in<br />

Mannheim, das solche Leute regelmäßig befragt<br />

und seine Ergebnisse Anfang dieser Woche veröffentlichte<br />

(siehe Grafik).<br />

So weit die Stimmungen. Bevor sich eine<br />

Wende in den richtig harten Wirtschaftsdaten<br />

zeigen kann, dauert es allerdings länger. Der entscheidende<br />

Treiber für die Konjunktur sind Investitionen,<br />

sie sorgen für das Auf und Ab im<br />

Wirtschaftszyklus. Seit fast einem Jahr gehen sie<br />

in Deutschland zurück, jetzt müsste sich der entstandene<br />

Investitionsstau lösen, wenn die These<br />

von der Trendwende stimmt. Bis Unternehmen<br />

neue Investitionsentscheidungen fällen oder frühere<br />

Beschlüsse dazu revidieren, braucht es aber<br />

einige Zeit. Aus den Plänen müssen dann konkrete<br />

Aufträge werden und aus denen wiederum<br />

die reale Produktion oder Dienstleistung eines<br />

Bauunternehmers oder Lieferanten. Schließlich<br />

vergeht noch mal eine Weile, bis alle diese Aktivitäten<br />

von Statistikern erfasst, addiert und publiziert<br />

werden.<br />

Bei vielen Wirtschaftsdaten ist es wie bei einem<br />

alten Fotoapparat: Man kann nicht einfach<br />

auf ein Knöpfchen drücken und sofort sehen,<br />

was man gerade geknipst hat. Nein, das Bild<br />

muss erst langwierig entwickelt werden. Es zeigt<br />

erst nach Wochen oder gar Monaten der Verzögerung,<br />

was einmal war.<br />

Es kann also durchaus sein, dass es in den<br />

nächsten Wochen erst einmal weitergeht mit<br />

den schlechten Nachrichten – ein Rückgang im<br />

Einzelhandel hier, ungünstigere Arbeitsmarktdaten<br />

da. Die breite Öffentlichkeit nimmt meist<br />

nur von den Arbeitslosenzahlen wirklich Notiz.<br />

Und das ist ausgerechnet die Größe, die der<br />

Konjunktur am weitesten hinterherläuft, an der<br />

sich zuallerletzt ablesen lässt: Es geht bergauf<br />

oder bergab.<br />

Deshalb tröpfelt auch jetzt erst langsam ins<br />

allgemeine Bewusstsein, dass die Krise in der<br />

deutschen Wirtschaft ankommt, obwohl Aufträge<br />

und Investitionen schon Ende 2011 zu<br />

sinken begannen – und obwohl sich etliche Experten<br />

schon wieder mit der nächsten Trendwende<br />

beschäftigen, nämlich mit der zum nächsten<br />

Aufschwung.<br />

Die meisten Prognosen sehen für die zweite<br />

Hälfte dieses Jahres ein schwaches Wachstum<br />

oder sogar ein kleines Minus voraus, danach soll<br />

die Wirtschaft dann Zug um Zug wieder stärker<br />

expandieren (siehe Grafik). Einen Riesen-Boom<br />

erwartet niemand, im Jahresdurchschnitt soll<br />

sich das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland<br />

nur um rund ein Prozent erhöhen. Doch immerhin,<br />

es wäre Wachstum, nicht Schrumpfung oder<br />

Stagnation. Und die Zahl der Erwerbstätigen<br />

würde ebenfalls wieder leicht steigen.<br />

Es sind ja auch nicht gleich alle Aussichten rosig.<br />

Allen Prognosen zufolge bleiben die Sparprogramme<br />

in Südeuropa eine Belastung. Gustav Horn, Chef des<br />

gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und<br />

Konjunkturforschung, mag die Aufschwungeuphorie<br />

seiner Kollegen aus diesem Grund auch überhaupt<br />

nicht teilen. »Die Krisenländer müssen mehr Zeit bekommen,<br />

sonst findet der Euro-Raum nicht aus der<br />

Rezession«, warnt der Ökonom. Dann bliebe auch die<br />

deutsche Wirtschaft am Boden.<br />

Ob Horn nun recht hat oder seine optimistischeren<br />

Kollegen: In jedem Fall betreffen alle diese Voraussagen<br />

nur die nahe Zukunft, die kommenden Quartale, das<br />

nächste Jahr. Was auf lange Sicht wird, ist schwer ab-<br />

zusehen. Commerzbank-Volkswirt Krämer zum Beispiel<br />

sieht die fernere Zukunft schon wieder eher<br />

skeptisch: Kurzfristig, meint er, werde sich die lockere<br />

Geldpolitik in Deutschland »sehr gut anfühlen« – aber<br />

langfristig berge diese Politik große Gefahren, die irgendwann<br />

alles nach unten ziehen könnten. Aber das<br />

wird man möglicherweise erst in fünf oder zehn Jahren<br />

erkennen können. Erst, so scheint es, kommt jetzt mal<br />

ein Aufschwung.<br />

I<br />

Weitere Informationen im Internet:<br />

www.zeit.de/konjunktur<br />

www.zeit.de/audio<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 21<br />

Produktion von<br />

Getrieben bei der<br />

Firma Bosch Rexroth<br />

in Witten<br />

Die Stimmung ändert sich<br />

Index der Konjunkturerwartungen<br />

von Finanzexperten<br />

25<br />

Deutschland<br />

20<br />

EU<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

–5<br />

–10<br />

–15<br />

–20<br />

–25<br />

–30<br />

–35<br />

<strong>2012</strong><br />

Jan. Febr. März Apr. Mai Juni Juli Aug. Sept.<br />

Quelle: Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung<br />

Das Wachstum soll steigen<br />

Wirtschaftswachstum in Deutschland<br />

gegenüber dem Vorquartal in Prozent<br />

(Jahresrate)<br />

Prognose<br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

0<br />

<strong>2012</strong> 2013<br />

1. Quartal 2. 3. 4. 1. 2. 3. 4.<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK/Quelle: Institut für Weltwirtschaft

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