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DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

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REISEN<br />

Berlins größter Spielplatz<br />

Weitläufi ger als der New Yorker Central Park, überschaubar wie eine Steppe: Der stillgelegte Flughafen Tempelhof zieht Modellfl ieger,<br />

Gärtner und Lebenskünstler an. Die Berliner verteidigen ihr Stück Anarchie gegen Bebauungspläne des Senats VON HANS W. KORFMANN<br />

Ein dünner Nebelschleier liegt über<br />

dem hohen Gras. Es duftet nach Erde<br />

und letzten Spätsommerblüten. Alles<br />

ist grau, nur weit im Osten, am anderen<br />

Ende der Ebene, mischt sich eine<br />

erste Spur von Rot ins Morgengrauen. Dann steigt<br />

die Sonne auf. Dunkel zeichnen sich Eichen am<br />

Horizont ab. In der Ferne, am Südrand der Fläche,<br />

zieht klein wie eine Spielzeugeisenbahn die Lichterkette<br />

einer S-Bahn vorüber.<br />

Am nördlichen Rand des Wiesenmeers sitzt in<br />

der Nähe einer Baumgruppe ein Fuchs. Er wartet<br />

auf einen kleinen Mann, der jeden Morgen<br />

kommt und ihm etwas zu essen bringt. »Der kann<br />

nicht mehr jagen, der hat was am Bein, genau wie<br />

ich«, sagt der Rentner und holt eine Stulle für das<br />

hinkende Tier aus der Tasche.<br />

Fuchs und Rentner sind die Einzigen, die,<br />

wenn es hell wird, auf dem riesigen Gelände zu<br />

sehen sind. Einst war es Ackerland zwischen dem<br />

Dörfchen Tempelhof und der kleinen Stadt an<br />

der Spree. Später landeten hier die ersten Flugzeuge.<br />

Bald war der Flughafen von einem Häusermeer<br />

umgeben, von Neukölln, Kreuzberg und<br />

Tempelhof, drei Ortsteilen inmitten der lauten<br />

Weltstadt Berlin. Doch seit im Herbst 2008 das<br />

letzte Flugzeug den Airport verließ, seit plötzlich<br />

Stille eingekehrt ist, liegt das Feld außerhalb von<br />

Raum und Zeit.<br />

Wie aus der Vergangenheit dringt von Süden<br />

das Läuten eines Kirchturms herüber – als läge<br />

dort hinten, zwischen Feldern, noch immer das<br />

Gut der Templer. Und so winzig erscheinen im<br />

Osten die Dächer von Neukölln, als wären sie<br />

eine Tagesreise entfernt. Der »Park der Tempelhofer<br />

Freiheit«, wie er heute heißt, ist größer als<br />

der Tiergarten, größer als der Central Park, aber<br />

so flach und übersichtlich wie ein Fußballfeld.<br />

Wie fünfhundert zusammengelegte Fußballfelder.<br />

Diese Weite in der Großstadt hat etwas Magisches,<br />

und sie zieht immer mehr Menschen an,<br />

aus Berlin und der ganzen Welt.<br />

Nach dem Fuchs und dem Rentner tauchen<br />

die ersten Radfahrer auf. Sie nutzen die beiden<br />

über zwei Kilometer langen Start- und Landebahnen<br />

als autofreie Ost-West-Achse. Jogger laufen<br />

auf dem Flugfeld ihre Runden. Spaziergänger<br />

führen ihre Hunde aus. Allmählich löst sich der<br />

Nebel aus den Gräsern des verwilderten Rasens<br />

und steigt in den Himmel auf. Wenn die Sonne<br />

höher steht, zeigt sich der erste bunte Punkt an<br />

der weiten blauen Kuppel: der Hubschrauber von<br />

Christian Sigora. »Ich komme am liebsten so um<br />

zehn. Später sind zu viele Leute hier.« Senkrecht<br />

steigt der rote Modellhubschrauber in den Himmel,<br />

dreht Loopings und verrückte Schrauben,<br />

um am Ende brav vor den Füßen des Meisters zu<br />

landen. Die kleinen Fluggeräte gingen in Tempelhof<br />

an den Start, nachdem die großen abgeflogen<br />

waren. Abends, wenn die Sonne sinkt, kleben die<br />

Modellpiloten farbige Lichter unter die Tragflächen<br />

ihrer Spielzeuge, die dann wie bunte Glühwürmchen<br />

durch die Nacht schwirren.<br />

Bald bekommt der Hubschrauber Gesellschaft<br />

von zwei Drachen. Sie gehören André und Andor,<br />

die mit Sturzhelmen, Rucksäcken und Skateboards<br />

angerückt sind. »Das ist der einzige Spot<br />

im Umkreis von 100 Kilometern«, sagt André.<br />

»Und das mitten in der Stadt. Du kannst da einfach<br />

mit der U-Bahn hinfahren!« Es sind nicht<br />

nur die langen Asphaltstreifen, die die Kite-Piloten<br />

locken: »Auf dieser riesigen Fläche hast du immer<br />

Wind. Und keine Bäume, in denen du hängen<br />

bleibst. Das ist einmalig. Manchmal sind fünfzig<br />

Kites in der Luft, ich hab sie mal gezählt.«<br />

Doch noch ist reichlich Platz im Luftraum<br />

über dem Park, und auch am Boden wird es nicht<br />

eng. Nur bei der Baumgruppe im Norden stehen<br />

zwei Campingstühle. Darin sitzen zwei Menschen<br />

und lesen. »Hier findest du immer eine<br />

Ecke, wo du komplett ungestört<br />

bist.« Ebenso ungestört fühlt<br />

sich ein junges Paar im Schutz<br />

des hohen Grases.<br />

Auch später am Tag,<br />

wenn mehr und mehr Besucher<br />

den alten Flughafen<br />

bevölkern, bleibt die<br />

Magie der Leere erhalten.<br />

Die Menschen gehen<br />

ein in diese Landschaft,<br />

weit zerstreut im<br />

dichten Grün erinnern sie<br />

an die Tiere der Serengeti, die<br />

unter den breiten Schirmen vereinzelter<br />

Bäume lagern.<br />

Tiergarten<br />

Charlottenburg<br />

Wilmersdorf<br />

Marienfelde<br />

BERLIN<br />

Mitte<br />

Kreuzberg<br />

TEMPELHOFER FELD<br />

Es ist Mittag, Christian Sigora packt<br />

seinen Hubschrauber ein. Mittlerweile herrscht<br />

lebhafter Flugbetrieb, Drachen in allen möglichen<br />

Farben und Formen bevölkern den Himmel. Drachen<br />

von alten Männern und kleinen Mädchen,<br />

von Bastlern, die 180 kleine Rauten an eine einzige<br />

Schnur reihen und sie wie eine bunte Himmelsleiter<br />

ins Blau hinaufschicken. Streetsurfer<br />

kreuzen mit ihren Segeln auf den Asphaltstreifen<br />

durch das Wiesenmeer, Mütter schieben Kinderwagen.<br />

Hunderte Menschen sind jetzt unterwegs.<br />

»Es gibt keine Regeln, keine Straßenverkehrsordnung,<br />

und alles funktioniert trotzdem! Das ist<br />

Anarchie, ein kleines Stück Freiheit«, sagt Christian<br />

Puder vom Neuköllner Stadtteilgarten Schillerkiez,<br />

einem der Pionierprojekte, die sich im<br />

Osten der Ebene ansiedeln durften. Das Projekt<br />

ist so etwas wie die grüne Außenstelle eines Bürgerzentrums,<br />

ein gemeinschaftlicher Schrebergarten.<br />

»Wir waren total überrascht, dass wir unsere<br />

großen Blumenkästen und unsere Sessel hier aufstellen<br />

durften.«<br />

Die Pachtverträge der Neuköllner sind jedoch<br />

jederzeit kündbar, sie sind sogenannte Zwischen-<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK<br />

3 km<br />

nutzer. Am Ende, so fürchten sie, kommen die<br />

Bagger. Die Stadt Berlin hat Pläne mit dem Areal.<br />

Aber noch krabbeln zwischen den Blumen, Kürbissen<br />

und meterhohen Stangenbohnen der mobilen<br />

Beete die Babys, sitzen auf ausgedienten<br />

Sofas und zusammengenagelten Liegestühlen<br />

Mütter in der Sonne. Ein Mann spielt Geige, von<br />

Ferne klingt ein Saxofon, auf der Wiese steht ein<br />

nackter Yogi seit fünf Minuten auf dem Kopf,<br />

während seine Freundin vom Lotossitz aus den<br />

Blick über die Landschaft schweifen lässt.<br />

Die Stadtgärtner gehören längst zum Sightseeing-Programm,<br />

Touristen kommen und stellen<br />

Fragen. »Wir haben schon überlegt, ob wir eine<br />

Sprachbox installieren, mehrsprachig, damit wir<br />

nicht so viel reden müssen«, sagt Puder. »Gestern<br />

war einer aus Togo da, und der fragte das Gleiche<br />

wie das ZDF letzte Woche.« Wer die Gärtnerei erlaubt<br />

habe, und warum niemand die Tomaten<br />

klaue, obwohl es doch keinen Zaun gebe.<br />

Die Besucher fotografieren Franks<br />

Sonnenstudio, diese Symbiose<br />

von Liegestuhl und Gewächs-<br />

Lichtenhaus mit drei Wänden aus<br />

berg Fensterflügeln und der offenen<br />

Tür nach Süden.<br />

»Ich hab hier im Februar<br />

mit nacktem Oberkörper<br />

Neukölln gesessen, bei offener Tür.<br />

18 Grad Innentemperatur!«<br />

Dann richten sie ihre<br />

Kameras auf all die anderen<br />

Treptow kleinen Gartenkunstwerke,<br />

die Blumen, die aus alten<br />

Schuhen, einem Autospoiler, aus<br />

einem platten Fußball sprießen, all<br />

diese kleinen Symbole des Sieges der<br />

Natur über die Zivilisation.<br />

Die wachsende Beliebtheit der Tempelhofer<br />

Freiheit missfällt dem Berliner Senat. Er will mehr<br />

als nur eine Wiese, auf der sich jeder wohlfühlt, er<br />

möchte Breschen in die Wildnis schlagen, Sport- und<br />

Spielplätze bauen, die Steppe mit einem künstlichen<br />

See und einem Kletterberg anreichern. Und am<br />

Rand des Geländes luxuriöse Wohnviertel errichten.<br />

»Brauchen wir nicht!«, sagt Michael Stachowicz,<br />

ein Rentner aus der Nachbarschaft, der Lust<br />

auf eine Brezel im bayerischen Biergarten hatte<br />

und unter der Baumgruppe am Steppenrand sitzt.<br />

»Jedes Haus, das hier gebaut wird, ist eines zu<br />

viel.« Doch der Senat hört nicht auf Stachowicz.<br />

60 Hektar sollen bebaut werden. Das ist zwar nur<br />

ein Sechstel der Tempelhofer Freiheit, einer der<br />

größten innerstädtischen Freiflächen der Welt.<br />

Aber Freiheit ist unteilbar. Schon im kommenden<br />

Jahr könnte es losgehen, und 2020 soll die Wiese<br />

den Architekten der Internationalen Bauausstellung<br />

zur Verfügung stehen.<br />

Nur ungern geben die Planer der stadteigenen<br />

Gartenfirma Grün Berlin und der zur Entwick-<br />

lung des Areals eigens gegründeten Tempelhof<br />

Projekt GmbH zu, dass der stillgelegte Flughafen<br />

offensichtlich mehr Besucher anzieht als irgendeine<br />

andere der städtischen Grünanlagen. Dass<br />

der Wildwuchs in der Mitte der deutschen Hauptstadt<br />

attraktiver ist als jeder gestaltete Park. Selbst<br />

der Senator für Stadtentwicklung erklärte: »Die<br />

Menschen haben sich diese Fläche erobert.« Und<br />

Kreuzbergs Bürgermeister fügte hinzu: »Es gibt<br />

keine Brache in dieser Stadt, die von den Berlinern<br />

so schnell besetzt wurde wie diese.«<br />

Die Sonne hat den höchsten Stand überschritten,<br />

Menschenmassen ziehen über den Columbiadamm<br />

am Nordrand des Parks. Benannt ist er nach der<br />

blechernen Miss Columbia, die 1927 nach 43 Stunden<br />

über dem Atlantik auf dem Feld von Tempelhof<br />

landete. Sie kommen mit Taschen, Decken, Picknickkörben<br />

und Sonnensegeln, mit Bällen, Boulekugeln<br />

und Schachspielen, mit Frisbeescheiben und<br />

Federballschlägern, mit Freunden und Frauen und<br />

Gästen. Sie sind braun oder weiß oder schwarz, sie<br />

tragen Turbane, Baseballkäppis, Kopftücher und<br />

Strohhüte. Sie alle haben ihren Platz gefunden auf<br />

dem Feld. 30 000 Besucher an schönen Tagen,<br />

schätzen die Statistiker des Senats. »Viel zu wenig für<br />

so eine große Fläche«, findet Christoph Schmidt von<br />

Grün Berlin. Doch wie will man ein neues Publikum<br />

anlocken, ohne das alte zu vertreiben? Die Menschen<br />

sind glücklich mit dieser Brache. Sie wollen keine<br />

künstliche Parklandschaft. Keine teure Gestaltung.<br />

Sie wollen, dass alles ganz einfach so bleibt, wie es<br />

gerade ist.<br />

Über der Grillwiese vor dem Halbkreis des alten<br />

Terminals steigen Rauchfahnen in den Himmel.<br />

Daneben kämpfen 22 Männer in kurzen<br />

Hosen um einen Ball. Schon vor 130 Jahren weihte<br />

Germania 1888 Berlin, der älteste Fußballverein<br />

Deutschlands, seinen Platz auf dem Feld ein.<br />

Diese Wiese war immer Berlins Spielwiese. Alte<br />

Kupferstiche zeigen Damen, die in wehenden<br />

Kleidern mit Drachen an der Leine über das Feld<br />

laufen, und Männer mit Schmetterlingsnetzen.<br />

Unscharfe Fotografien dokumentieren den Start<br />

von Heißluftballons und anderen bis dahin unbekannten<br />

Flugobjekten. »Dieses Feld war auch<br />

immer ein Experimentierfeld«, sagt der Landschaftsarchitekt<br />

Hermann Barges. Nur die Experimente<br />

des Senats möchte er hier nicht sehen.<br />

Barges gehört zur »Demokratischen Initiative<br />

100% Tempelhofer Feld«, die am Wochenende<br />

eine Unterschriftensammlung startet, um eine<br />

Bebauung des Feldes zu verhindern. Er ist optimistisch:<br />

»Nicht der Mensch verändert die Orte,<br />

sondern die Orte verändern den Menschen.«<br />

Am frühen Abend sind die meisten Liegestühle<br />

in der Nähe des Biergartens besetzt. Die Stadt<br />

chillt, plaudert zum Sonnenuntergang leise vor<br />

sich hin. Auch Burghard Kieker kommt mit seinen<br />

Kindern gern aufs Feld. Der Chef von Visit<br />

Berlin ist so etwas wie der geheime Tourismus-<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N No <strong>39</strong> 59<br />

senator. »Wir haben in Berlin bald drei Millionen Besucher<br />

pro Jahr, das sind Pariser Dimensionen! Diese<br />

Leute müssen verteilt werden, die dürfen nicht nur<br />

um den Reichstag kreisen.«<br />

Es wird stiller auf der Tempelhofer Freiheit, friedlich<br />

und elegant hängt die Sichel des Mondes über dem<br />

Horizont. Im hohen Gras lässt sich wieder der Herbstnebel<br />

nieder, nur vom Asphalt der Rollbahn steigt wie<br />

eine leise Erinnerung an den Sommer noch Wärme auf.<br />

Ein Radfahrer fährt ohne Licht, mit einem Radio am<br />

Lenker, aus dem Ravels Bolero tönt. Es ist finster in der<br />

Mitte Berlins. Noch immer sind Menschen unterwegs.<br />

Leises Gelächter dringt herüber aus den Inseln im Gras.<br />

Eine Gitarre klingt, Feuerzeuge flackern, der blaue<br />

Schein der Telefone: kleine menschliche Leuchtfeuer in<br />

der Steppe, während in der Ferne wieder der Lichterzug<br />

der S-Bahn vorüberzieht.<br />

A www.zeit.de/audio<br />

Der »Park der<br />

Tempelhofer<br />

Freiheit« am Abend.<br />

Die hölzernen<br />

Vögel wurden von<br />

Schülern aufgestellt<br />

Foto: Pierre Adenis/laif

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