DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks
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zu Kindern philosophisch so interessant. In<br />
keiner anderen menschlichen Beziehung<br />
sorgen wir auch nur annähernd so viel für<br />
den anderen. Ich liebe meinen Mann und<br />
versuche, ihm eine gute Ehefrau zu sein.<br />
Also koche ich für ihn und höre ihm zu.<br />
Aber wenn ich nur das für ein Baby tun<br />
würde, wäre es Kindesmisshandlung. Dabei<br />
bemerken die Kinder unsere Opfer nicht<br />
einmal. Wenn sie die ständige Fürsorge als<br />
etwas Besonderes wahrnehmen, ist das sogar<br />
ein Alarmsignal.<br />
Daher dieses Gefühl, dass wir als Mütter<br />
und Väter nie gut genug sind, dass wir<br />
unserem Kind immer noch etwas mehr<br />
schulden. Verlangt Elternschaft Unmögliches<br />
von uns?<br />
Jemanden, der so viel für Fremde tut wie<br />
wir alle für unsere Kinder, würde man einen<br />
Heiligen nennen ...<br />
... aufgrund seiner Selbstlosigkeit, nicht<br />
weil er Wunder vollbringt.<br />
Sicher, ich bin eine jüdische Atheistin. Allerdings<br />
glaube ich, das Leben mit einem<br />
Dreijährigen ist tatsächlich ein schneller<br />
Weg, ein gewisses Maß an Heiligkeit zu<br />
erreichen.<br />
Ich spüre davon an mir nicht viel.<br />
Das tun selbst große Heilige selten. Was die<br />
Schuldgefühle angeht: Für gute Amerikaner<br />
gehört es sich nicht, welche zu haben.<br />
Ich allerdings fürchte, dass sie eine völlig<br />
angemessene Reaktion auf unsere enorme<br />
Verantwortung als Eltern sind.<br />
Feministinnen werden von solchen Gedanken<br />
wenig angetan sein. Jahrzehntelang<br />
haben die Frauen zu lernen versucht,<br />
sich nicht immer nur in den<br />
Dienst anderer zu stellen – und jetzt<br />
kommen Sie mit angemessenen Schuldgefühlen<br />
und Heiligkeit!<br />
Feminismus hat zwei Seiten: Neben dem<br />
Kampf gegen die Unterdrückung ging es<br />
immer auch darum, die weiblichen Erfahrungen<br />
ernst zu nehmen. Frauen haben ja<br />
nicht die letzten 10 000 Jahre lang Däumchen<br />
gedreht, sie haben die ganze Erdbevölkerung<br />
großgezogen. Die Einsichten, die sie<br />
dabei gewannen, sind genauso wertvoll wie<br />
die Überlieferung der meist alleinstehenden<br />
männlichen Philosophen und Theologen.<br />
Genau darum habe ich meinen Ausflug in<br />
die Entwicklungspsychologie gemacht: Ich<br />
wollte helfen, der Philosophie eine Sichtweise<br />
zu öffnen, für die sie zu lange blind<br />
war. Es entsprach mir – als Älteste von sechs<br />
Geschwistern habe ich in meinem ganzen<br />
Leben nur drei Jahre verbracht, ohne mich<br />
um kleine Kinder zu kümmern.<br />
Welche Frage trieb Sie um, dass Sie eine<br />
Antwort in der Philosophie suchten?<br />
Woher unsere Weltkenntnis kommt. Gemessen<br />
daran, wie wenig Informationen<br />
wir über die Sinne erhalten, wissen wir unglaublich<br />
viel. Das ist für mich noch immer<br />
das Rätsel aller Rätsel. Schon Platon wunderte<br />
sich darüber. Ich las ihn zum ersten<br />
Mal mit zehn Jahren.<br />
Haben Sie ihn verstanden?<br />
Meine Eltern hätten nie gesagt, dass wir<br />
Kinder einen Philosophen nicht verstehen<br />
können. Sie gaben uns jedes Buch, weil sie<br />
vernünftigerweise dachten, dass wir die uns<br />
zugänglichen Teile schon heraussuchen<br />
würden. Übrigens haben mir viele Philosophen<br />
erzählt, dass sie in diesem Alter oder<br />
etwas später mit Platon anfingen.<br />
Weil er so wundervoll und anschaulich<br />
schreibt.<br />
Und zwischen dem achten und zehnten<br />
Lebensjahr beginnen Kinder typischerweise,<br />
theologische Fragen zu stellen. Etwa:<br />
»Wie ist alles entstanden?« Wie Untersuchungen<br />
zeigen, machen sie sich solche<br />
Gedanken sogar, wenn sie in einer atheistischen<br />
Umgebung aufwachsen.<br />
Ja, selbst unsere Berliner Kinder fragen<br />
nach Gott. Allerdings erscheint mir Ihr<br />
Beispiel nicht besonders theologisch.<br />
Aber die Antworten, die Kinder spontan<br />
darauf geben, sind es. Etwa: »Jemand<br />
muss das Universum gemacht haben.« Sie<br />
folgen aus einer natürlichen Entwicklung.<br />
Schon dreijährige Babys fragen sich sehr<br />
grundsätzliche Dinge. Etwa wollen sie<br />
wissen, was im Kopf eines anderen Menschen<br />
vorgeht und warum er tut, was er<br />
tut. So ist es normal, dass Kinder im Lauf<br />
der Zeit immer umfassendere Erklärungen<br />
suchen – bis sie irgendwann überlegen,<br />
ob vielleicht die ganze Welt einen<br />
Zweck haben könnte.<br />
Ich weiß, dass ich mir solche Fragen gegen<br />
Ende meiner Grundschulzeit stellte.<br />
Aber mir fehlt jede Erinnerung, wie es<br />
dazu kam. Die eigene Kindheit kommt<br />
mir vor wie ein Traum nach dem Erwachen:<br />
Einige Szenen ziehen wir mühsam<br />
aus dem Gedächtnis hervor. Aber je weiter<br />
wir zurückgehen, umso mehr liegt im<br />
Dunkel. Als wäre der ganze Reichtum der<br />
frühen Jahre für immer verloren.<br />
Wir wissen nicht einmal, warum es so ist.<br />
Wahrscheinlich haben Kinder unter vier<br />
Jahren kein Verständnis dafür, dass sie durch<br />
die Zeit wandern – dass ihr Ich der Vergangenheit<br />
und jenes der Gegenwart Teil derselben<br />
Geschichte sind. Darum können sie<br />
kaum bleibende Erinnerungen anlegen.<br />
Hat es Sie nie traurig gestimmt, zu erleben,<br />
wie schnell eine Kindheit vergeht?<br />
Doch. In Japan gibt es den wunderbaren<br />
Begriff aaware. Er meint die ganz besondere<br />
Schönheit des Flüchtigen: der Kirschblüte<br />
etwa oder des ersten Schnees. Wer sie<br />
genießen will, muss sich hingeben – und<br />
leidenschaftlich lieben, was er weder kontrollieren<br />
noch festhalten kann.<br />
Stefan Klein führt für das <strong>ZEIT</strong>magazin<br />
regelmäßig Gespräche mit<br />
Wissenschaftlern über die großen Fragen.<br />
Zuletzt erschienen »Altern« (Nr. 16/12)<br />
und »Freundschaft« (Nr. 5/12)<br />
Wir danken der KLAX-Kinderkunstgalerie aus Berlin