DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks
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toriker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Berlin<br />
ist nur halb so heiß wie Dallas, aber die Fenster des Wissenschaftskollegs<br />
in Grunewald stehen sperrangelweit offen. Hinter der Villa<br />
steht ein Basketballkorb.<br />
Lepenies, Jahrgang 41, hat als junger Mann für Rot-Weiß Koblenz<br />
gespielt, Punkterekord 48 Punkte. Wie Basketball richtig zu lesen<br />
und zu verstehen ist, hat ihm der Über-Ethnologe Clifford Geertz<br />
bei den Spielen der Prince ton Tigers beigebracht. Er hat in New York<br />
Bill Bradley und die 72er-Mannschaft der Knicks bewundert, Willis<br />
Reed, Earl Monroe und Walt Frazier.<br />
Wolf Lepenies weiß also, wovon er spricht, wenn er über Basketball<br />
spricht. Er ist ein kluger, begeisterungsfähiger Mann, wir geraten<br />
direkt in enthusiastische Fachsimpelei. Lepenies erzählt, wie er Nowitzki<br />
und Geschwindner einmal beim Training zugesehen habe, 75<br />
Minuten Würfe ohne Unterlass, beeindruckend, allerbeste Schematik!<br />
»Geschwindner ist im tollsten Sinne verrückt, mir imponiert sein<br />
Denken vom Maximum her«, sagt er. »Wo unsereiner vom Durchschnitt<br />
her denkt, sind die beiden gnadenlos. Sieben Treffer von zehn<br />
Würfen heißt für sie: drei Fehlwürfe. Sie wollen zehn Treffer.«<br />
Die Meisterschaft hat Lepenies nachts am Computer verfolgt,<br />
beim letzten Spiel hat er sogar kurz vor Schluss seine Frau geweckt –<br />
das habe sie einfach sehen müssen. Danach hat er über Nowitzki geschrieben.<br />
Für Lepenies ist er weit mehr als ein Star: »Nowitzki hat<br />
Größe«, sagt er, das sei etwas grundsätzlich anderes. Lepenies bringt<br />
Pierre Bourdieu in Anschlag. Nowitzki habe ein beeindruckendes kulturelles<br />
und soziales Kapital, er sieht ihn in einer Reihe mit Fritz Walter,<br />
Max Schmeling, Uwe Seeler und Franz Beckenbauer. Ihre Niederlagen<br />
lassen uns trauern, ihre Siege empfinden wir als Gerechtigkeit.<br />
Das Gespräch treibt von Nowitzkis Größe zu seiner Bodenständigkeit,<br />
zu Begriffen wie Ehrlichkeit, Inszenierung und Authentizität<br />
– und plötzlich analysieren wir Nowitzkis Hochzeitsfoto, als wäre es<br />
Jan van Eycks Arnolfini-Hochzeit, den Schnitt des Anzugs, den de-<br />
Nowitzki gibt nach dem Spiel Interviews; das<br />
Einlaufen in die Halle vor dem Spiel (rechts)<br />
zenten Schmuck der Braut. »Vielleicht geht das jetzt zu weit bei Nowitzki«,<br />
sagt Wolf Lepenies und lacht, »aber dieses Bild ist kein Starfoto,<br />
es ist nicht nur Style. Man ahnt einen Kern, an dem man nicht<br />
rühren kann. Das ist diffus, aber da ist irgendetwas, das ›richtig‹ ist.<br />
Lauter. So etwas ist selten: Lauterkeit.« Lepenies sieht aus dem Fenster<br />
auf den Basketballkorb. Er denkt nach, er lächelt, er kehrt zum<br />
Thema zurück. »Dirk Nowitzki«, sagt Lepenies, »ist eine unserer ganz<br />
großen Sportgeschichten.«<br />
Anfang September rase ich wieder zu einer Halle, diesmal fährt<br />
Nowitzki. Wir sind auf dem Weg zum Training, morgens um neun,<br />
die Strecke vom Haus seiner Eltern zur Trainingshalle in Rattelsdorf<br />
kennt er im Schlaf, er fährt sie schon mehr als sein halbes Leben lang.<br />
»Seit achtzehn Jahren machen wir das jetzt«, sagt er, seit achtzehn Jahren<br />
fährt er von Würzburg nach Rattelsdorf, A 7, A 70. Hier ist er auf<br />
Händen durch die Halle gelaufen, auf Kästen gesprungen und herunter,<br />
zwei, zweieinhalb Stunden am Stück. »Wir haben früher trainiert<br />
wie die alten Russen.« Jetzt ist alles dosierter und routinierter. Er habe<br />
seine Lehren aus dem letzten Jahr gezogen und den Sommer durchtrainiert,<br />
»bisschen gerannt« sei er, um die Spannung zu halten. »Selbst<br />
wenn ich Pause mache, kann ich nicht mehr auf null runterfahren.« Er<br />
merke sein Alter, sagt er. »Man bezahlt dafür.«<br />
Dirk sortiert seinen Sommer. Er zählt an den Knöcheln seiner<br />
Hand ab, welcher Monat wie viele Tage hatte, er lacht, die Erinnerung<br />
an die letzten Monate scheint ihm zu gefallen. Seit unserem Treffen ist<br />
viel passiert. Zunächst Dallas, weil seine Frau in der Galerie arbeiten<br />
musste. Schon eine Woche nach dem Ausscheiden war er wieder im<br />
Kraftraum. Anfang Juli dann Feier in Kenia. Trauung in Dallas. Fest in<br />
der Karibik. Werbedreh auf Mallorca. Neues Visum. Besuch in Würzburg.<br />
»Bisschen Wimbledon geguckt«, sagt er und meint damit nicht,<br />
dass er den Fernseher angeschaltet hat.<br />
Kenia sei großartig gewesen, sagt Nowitzki. Er habe sein Telefon<br />
nur sehr selten angefasst, das endgültige Auseinanderbrechen seiner<br />
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