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DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

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Abb.(Ausschnitt): Roger Viollet/StudioX; Fotos: M. Reichel/picture-alliace/dpa (l.); K. Kollwitz Museum, Köln (r.)<br />

17 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> No Drama im Bundestag:<br />

GESCHICHTE<br />

Am 1. Oktober 1982 wurde<br />

Helmut Kohl Kanzler S. 18<br />

<strong>39</strong><br />

Das Grab soll ausgehoben<br />

werden. So<br />

hat es der Stadtrat<br />

zu Hildburghausen<br />

im Thüringer<br />

Wald am 27. Juni dieses<br />

Jahres beschlossen, um endlich<br />

Gewissheit zu haben,<br />

um wen genau es sich bei<br />

der »Dunkelgräfin« handelt,<br />

die seit 1837 auf<br />

dem Stadtberg begraben<br />

liegt. Doch während<br />

die einen schon<br />

die Touristenbusse anrollen<br />

sehen und die<br />

Kassen klingeln hören,<br />

formieren sich andere<br />

zum Widerstand und<br />

fordern: Lasst sie ruhen!<br />

Wer nur war die geheimnisvolle<br />

Frau, die<br />

wegen ihrer grünen Brille<br />

und des Schleiers, der stets<br />

ihr Gesicht bedeckte, als<br />

»Dunkelgräfin« in die Geschichte<br />

eingegangen ist?<br />

Die Spur führt ins Paris der<br />

Revolution, ins Jahr 1795: Seit<br />

vier Jahren wird Marie Thérèse<br />

Charlotte de Bourbon, die 16-jährige<br />

Tochter des französischen Königs<br />

Ludwig XVI. und seiner Frau Marie<br />

Antoinette, im Temple gefangen gehalten.<br />

Sie hat hier die Hinrichtung ihrer Eltern und<br />

den Tod ihres Bruders miterleben müssen. Sie<br />

hat ein Jahr Einzelhaft hinter sich, umgeben<br />

von Soldaten, die, wie sie in ihrem Tagebuch<br />

schreibt, meist betrunken waren. Ob sie<br />

tatsächlich vergewaltigt wurde, lässt<br />

sich nicht sicher sagen. Aber es besteht<br />

kein Zweifel, dass die Haft<br />

dem jungen Mädchen schwere<br />

psychische Schäden zugefügt hat.<br />

Da die Prinzessin mehr und<br />

mehr zu einer Kultfigur der erstarkenden<br />

royalistischen Opposition<br />

wird, will die Revolutionsregierung<br />

sie so schnell<br />

wie möglich nach Österreich,<br />

in das Heimatland ihrer Mutter,<br />

abschieben. Andererseits<br />

befürchtet man, dass die Österreicher,<br />

mit denen sich die Franzosen<br />

damals noch im Krieg befinden,<br />

Marie Thérèse mit Erzherzog<br />

Karl, einem jüngeren Bruder<br />

des Kaisers, verheiraten könnten, um<br />

sich den Anspruch auf das Erbe der Prinzessin<br />

und auf den französischen Thron zu<br />

sichern. Ein Dilemma, aus dem es zunächst<br />

keinen Ausweg zu geben scheint.<br />

Offiziell wird die Prinzessin am 26. Dezember<br />

1795 in Basel an die österreichischen Behörden<br />

übergeben. Aber wie sagte Victor Hugo? »Es gibt<br />

zwei Arten von Geschichte: die offizielle, lügenhafte<br />

Geschichte und dann die geheime, wo die<br />

wahren Ursachen der Ereignisse liegen.« Die Geschichte<br />

der Tochter Marie Antoinettes ist dafür<br />

ein vollendetes Beispiel.<br />

Nach der offiziellen Geschichtsschreibung trifft<br />

sie Anfang Januar 1796 am Wiener Hof ein, wird<br />

freundlich aufgenommen und wie eine Tochter<br />

des Kaisers behandelt. 1799 heiratet sie ihren<br />

Cousin und lebt als Herzogin von Angou lême in<br />

Litauen und England – am Hof ihres Onkels,<br />

eines Bruders Ludwigs XVI. Nach der Vertreibung<br />

Napoleons kehrt dieser 1815 – als Ludwig XVIII.<br />

– mithilfe der Alliierten auf den wiedererrichteten<br />

französischen Königsthron zurück. Im Juli 1830<br />

aber kommt es zu einer erneuten Revolution in<br />

Paris und zur endgültigen Vertreibung der Bourbonen.<br />

Die Herzogin stirbt 1851 einsam und verbittert<br />

in Frohsdorf bei Wien.<br />

Die inoffizielle Version ist spektakulärer, nach<br />

neuesten Erkenntnissen aber die plausiblere.<br />

Das Grab<br />

im Wald<br />

Wer war die geheimnisvolle<br />

»Dunkelgräfi n« von<br />

Hildburghausen? Jetzt soll ihr<br />

Leichnam exhumiert werden<br />

VON CAROLIN PHILIPPS<br />

Schon im Januar 1796 schreibt Maria Karolina,<br />

Königin von Neapel und Schwester Marie Antoinettes:<br />

»Ich bin krank vor Angst, dass diese Bestien<br />

sich erlauben, ein anderes Mädchen anstelle meiner<br />

Nichte nach Wien zu schicken.« Und auch der englische<br />

Geheimagent Lord Wickham erhält von<br />

seinen Informanten beunruhigende Berichte von<br />

einer geplanten Flucht oder Entführung der Königstochter<br />

während ihres Aufenthalts in Basel. In<br />

den Archives nationales in Paris liegen zudem die<br />

Erpresserbriefe, die – Jahrzehnte später – eine ehemalige<br />

Untergouvernante an die Herzogin von<br />

Angoulême schreibt. In diesen Briefen droht sie<br />

damit, das Geheimnis der Vertauschung zu lüften.<br />

Bis zu ihrem Tod zahlt die Herzogin ein Vermögen<br />

an Schweigegeld.<br />

Die Korrespondenz belegt eindeutig, dass nicht<br />

die Tochter Marie Antoinettes in Wien angekommen<br />

ist, sondern ihre Halbschwester Marie<br />

Philippine, genannt Ernestine, eine uneheliche<br />

Tochter Ludwigs XVI. (Die Mutter ist eine seiner<br />

Kammerfrauen). Zusammen mit Marie Thérèse<br />

Marie Thérèse mit<br />

Bruder Louis<br />

Joseph, gemalt von<br />

Élisabeth Vigée-<br />

Lebrun 1787.<br />

Unten: Das Grab bei<br />

Hildburghausen<br />

wurde<br />

sie am Hof zu<br />

Versailles erzogen.<br />

Die Briefe, die Maria<br />

Karolina von Neapel zwischen 1796<br />

und 1799 an ihre Tochter, die österreichische<br />

Kaiserin, schickt, zeigen,<br />

dass man den Betrug in Wien<br />

schon sehr bald bemerkte. Das aber<br />

mochte niemand zugeben. Schließlich<br />

hatte der österreichische Unterhändler<br />

Dengelmann die Auslieferung<br />

der »richtigen« Königstochter<br />

offiziell quittiert – allerdings<br />

ohne sie jemals vorher gesehen zu<br />

haben. Es galt, das Gesicht zu wahren,<br />

wie Maria Karolina schrieb.<br />

Auch auf französischer Seite bemühte<br />

man sich um Geheimhaltung: An der Vertauschung<br />

beteiligt waren unter anderem Paul<br />

de Barras, der als Mitglied des Direktoriums für<br />

das Polizeiwesen zuständig war, und der Innenminister<br />

Pierre Bénézech. Sie gingen damit ein<br />

hohes Risiko ein. Wenn die Sache zum falschen<br />

Zeitpunkt aufflog, konnte dies nicht nur die<br />

Karriere der Beteiligten ruinieren, sondern auch<br />

die Beziehungen der französischen Regierung<br />

zum Hause Habsburg und zu anderen Herrscherhäusern.<br />

Immerhin war der Austausch ein<br />

offizieller Akt zwischen zwei Regierungen; das<br />

noch zweifelhafte Ansehen der Französischen<br />

Republik als Verhandlungspartner wäre auf lange<br />

Sicht zerstört worden.<br />

Als eines der größten Probleme erwies sich<br />

dabei die Unterbringung der echten Prinzessin.<br />

Niemand wusste, wie lange sie untertauchen musste.<br />

Und wann und ob man sich ihrer dereinst als<br />

Trumpfkarte bedienen würde – in dem Fall etwa,<br />

dass die Habsburger tatsächlich versuchen sollten,<br />

über eine Heirat Ansprüche auf den französischen<br />

Thron geltend zu machen.<br />

In diesen Zeiten der nachrevolutionären Kriege,<br />

die ganz Europa überzogen, gab es nur eine<br />

Institution, die überregional, politisch unabhängig<br />

und frei von gesellschaftlichen und religiösen<br />

Schranken agierte: die der Freimaurer. Es geht hier<br />

nicht um irgendeine der vielen Verschwörungstheorien,<br />

die den Freimaurern gerade in Zusammenhang<br />

mit der Französischen Revolution<br />

fälschlicherweise angehängt wurden<br />

und werden. Es geht hier allein um ihr<br />

Netzwerk, das einzigartig war – um 1790<br />

existierte beiderseits des Rheins in fast<br />

jeder größeren Stadt mindestens eine<br />

Freimaurerloge. Zudem waren alle an<br />

der Vertauschung Beteiligten Freimaurer,<br />

von den Regierungsmitgliedern<br />

Barras und Bénézech bis<br />

zu den französischen Gesandten<br />

in Basel.<br />

In den Jahren nach 1796 wird die<br />

echte Marie Thérèse immer wieder<br />

an verschiedenen Orten gesehen,<br />

mal in Straßburg, mal im<br />

schwäbischen Ingelfingen. Wegen<br />

der großen Ähnlichkeit zwischen<br />

ihr und ihrer Halbschwester<br />

glauben die Menschen, sie hätten<br />

die Herzogin von Angoulême vor<br />

sich. Die aber lebt zu dieser Zeit<br />

längst viele Tausend Kilometer entfernt<br />

in Litauen.<br />

Von 1799 an sorgt Leonardus Corne<br />

lius van der Valck, vormals<br />

holländischer Gesandter in<br />

Paris, für den Schutz der<br />

Prinzessin – vermutlich im<br />

Auftrag des französischen<br />

Innenministers Talleyrand<br />

(der ebenfalls den<br />

Freimaurern angehört).<br />

1807 erscheinen van der<br />

Valck und Marie Thérèse<br />

schließlich im thüringischenHildburghausen,<br />

wo Herzog Karl von<br />

Mecklen burg-Strelitz Meister<br />

vom Stuhl der Freimaurerloge<br />

»Karl zum Rautenkranze« ist<br />

und seine Tochter Charlotte amtierende<br />

Herzogin. Zwischen der Herzogsfamilie und Marie<br />

Antoinette hat zu deren Lebzeiten eine intensive<br />

Freundschaft bestanden.<br />

Hier findet Marie Thérèse endlich ihren Frieden,<br />

so wie sie es sich gewünscht hat, als sie noch<br />

im Gefängnis saß: »Ich schließe manchmal meine<br />

Augen und denke mir, dass ich in einem einsamen<br />

Schlosse wohne, umgeben nur von einigen treuen<br />

Menschen, die mich ebenso lieben wie ich sie [...],<br />

und dass die Menschen, denen ich begegne, gar<br />

nicht ahnen, wer ich bin.« Die Gerüchteküche<br />

allerdings brodelt schon damals, aber van der Valck<br />

besitzt genügend Geld, um die Anonymität seiner<br />

Begleiterin zu wahren. 1837 stirbt die »Dunkelgräfin«<br />

und wird auf dem Stadtberg oberhalb von<br />

Hildburghausen begraben.<br />

Da alle, die von der Vertauschung wussten, es<br />

tunlichst vermieden, schriftliche Spuren zu hinterlassen,<br />

bleiben für Skeptiker bis heute Fragen<br />

offen. Deshalb soll jetzt, 175 Jahre später, eine<br />

DNA-Analyse klären, ob die »Dunkelgräfin« tatsächlich<br />

die Tochter Ludwigs XVI. war. Eine Bürgerinitiative<br />

hat erreicht, dass die Hildburghausener<br />

zuvor abstimmen dürfen, ob die Leiche der Gräfin<br />

ans Licht gezerrt werden soll. Doch abgesehen von<br />

der ethischen Frage, ob neue Erkenntnisse um den<br />

Preis der Totenruhe gewonnen werden sollten, ist<br />

es auch zweifelhaft, ob dies überhaupt Klarheit<br />

bringen würde. Der Stadtberg war zwischen 1967<br />

und 1991 Sperrgebiet der sowjetischen Armee.<br />

Ältere Hildburghausener berichten, dass das Grab<br />

in dieser Zeit geöffnet worden sei – womöglich<br />

suchte man nach wertvollen Beigaben. Die Untersu<br />

chung eines bereits unkontrolliert geöffneten<br />

Gra bes kann aber kaum den Ansprüchen der Wissenschaft<br />

genügen. So wird, wie immer die Bürger<br />

entscheiden, der Schatten eines Zweifels bleiben,<br />

wer die geheimnisvolle »Dunkelgräfin« wirklich war.<br />

Die Autorin ist Historikerin und lebt in Hamburg.<br />

Mehr zum Thema in ihrem Buch »Die Dunkelgräfin.<br />

Das Geheimnis um die Tochter Marie Antoinettes«,<br />

das im April erschienen ist (Piper Verlag; <strong>39</strong>3 S., 10,99 €)<br />

Porträt der Epoche<br />

In Köln sind die faszinierenden Fotos<br />

der Lotte Jacobi zu sehen<br />

Was für eine gloriose Reihe: Marianne Breslauer, Ilse<br />

Bing, Yva, Gisèle Freund, Ger maine Krull, Aenne<br />

Biermann, Ruth Hallensleben, Frieda Riess, Suse<br />

Byk, Lucia Moholy ... und so viele Fotografinnen<br />

mehr, die als junge Frauen in der Weimarer Republik<br />

Furore und Fotogeschichte machten. Zu dieser Generation<br />

gehört auch Lotte Jacobi, Tochter einer<br />

Fotografenfamilie, 1896 in Thorn an der Weichsel<br />

geboren. Eigentlich wollte sie weg vom Gewerbe der<br />

Alten, wollte Imkerin werden und alles Mögliche<br />

andere. Aber dann erlag sie doch dem angeborenen<br />

Talent, stieg in das väterliche Unternehmen ein, das<br />

nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin umgezogen<br />

war – und wurde eine der Großen ihrer Zunft.<br />

Das Käthe Kollwitz Museum in Köln zeigt jetzt<br />

mehr als 100 Bilder Jacobis, in denen sich die Geschichte<br />

des 20. Jahrhunderts spiegelt. Im Mittelpunkt<br />

die Porträts aus dem Deutschland der Zwanzi<br />

ger, sowohl Auftragswerke als auch Pressefotos.<br />

Ikonen der Fotokunst sind darunter wie ihre Bildnisse<br />

von Lotte Lenya, Karl Valentin, Käthe Kollwitz,<br />

Klaus und Erika Mann oder der Tänzerin<br />

Niura Nor skaya von 1929 (unser Bild oben). Daneben<br />

stehen ihre Reportagen aus der Sow jet union<br />

der frühen drei ßiger Jahre, ihre Arbeiten aus dem<br />

amerikanischen Exil (Thomas Mann und Albert<br />

Einstein in Prince ton, 1938) und aus ihren späteren<br />

Jahren in den USA, wo sie 1990 auch gestorben ist.<br />

»Mein Stil ist der Stil der Menschen, die ich photographiere«,<br />

hieß eine ihrer Maximen – ein Bekenntnis<br />

zum Individualismus in einer brutalen Epoche,<br />

die auf den Einzelnen keine Rücksicht nahm.<br />

Käthe Kollwitz Museum, bis zum 25. November;<br />

Köln, Neumarkt 18–24; Tel. 0221/227 28 99<br />

<strong>ZEIT</strong>LÄUFTE<br />

SCHAUPLATZ: KÖLN<br />

onfession macht kitzelig. Ein böser Zank<br />

K<br />

um archaische Riten, ein zotiges Filmchen<br />

im Internet, die hämische Erinnerung an<br />

die Niederlage auf irgendeinem irischen<br />

Schlachtfeld vor 300 oder 500 oder 10 000 Jahren<br />

– schon ist der Fromme entflammt, schon rast der<br />

beleidigte Glaube, das religiöse Gefühl.<br />

Ganz anders hingegen das demokratische Staatsbürgertum!<br />

Da werden unsere Par lamen ta rier in<br />

den Untersuchungsausschüssen zum Naziterror des<br />

NSU, da wird die ganze Republik seit einem Jahr<br />

von sogenannten Verfassungsschützern, von Innenministerien,<br />

von Bundeswehrstellen und Polizeibehörden<br />

nach Strich und Faden verhöhnt und zum<br />

Narren gehalten – aber alles bleibt gleichmütig und<br />

sanft, und selbst in unseren unbestechlichen Medien<br />

flötet es nur fröhlich von »Pannen«. Da wurde<br />

»vergessen« und »verlegt«, da werden, so scheint es,<br />

mutmaßliche Mordkumpane aus den Amtsstuben<br />

heraus gedeckt, doch niemand fühlt sich beleidigt,<br />

niemand demonstriert.<br />

Wie gut, dass Demokratie nur irgendeine Staatsform<br />

ist, dass sie keine religiösen Gefühle weckt.<br />

Und dass niemand an sie glaubt. B.E.

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