15.06.2013 Aufrufe

DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

FEUILLETON<br />

LITERATUR<br />

Keiner wäscht reiner<br />

Ulf Erdmann Zieglers Roman erkundet die weißen Geheimnisse der deutschen Vergangenheit VON HUBERT WINKELS<br />

W<br />

»heilige« Johanna, zur Erstkommunion gehen.<br />

Lore trennt sich von ihrem Petrus und bleibt<br />

mit dem Geistlichen Valentin zusammen.<br />

Kennengelernt haben sich Lore und der<br />

Kaplan, weil Marleen dem Kommunionunterricht<br />

fernblieb. Sie sah keine Chance, »Mini«<br />

zu werden, also Ministrantin, eben wegen der<br />

»Unreinheit« der Mädchen. Dafür wurden<br />

Marleen und ihre Schwestern dann die ersten<br />

Testerinnen der neuen o.b.-Tampons, bevor<br />

eben auf dem Hintergrund von etwas. Dies<br />

eben meint der Titel: Es gibt nichts Weißes,<br />

ohne dass es sich von einer farbigen Umgebung<br />

abheben würde, sei es einer Linie, einem<br />

Fond, einem Schatten. Die bildende Kunst<br />

hat sich im 20. Jahrhundert mit Malewitsch<br />

und den amerikanischen Farbfeldmalern in<br />

diese Richtung weit vorgearbeitet, mit dem<br />

Weißen und dem Schwarzen Quadrat als quasimetaphysischen<br />

Schlüsselpositionen. Das<br />

Papa damit die große Werbe- und Aufklärungs- Motiv des »Reinweißen« bildet auch einen<br />

Ulf Erdmann<br />

Ziegler:<br />

Nichts Weißes<br />

Roman;<br />

Suhrkamp<br />

Verlag, Berlin<br />

259 S., 16,99 €<br />

äre der Tampon, wäre o.b.<br />

schon erfunden gewesen,<br />

hätten Mädchen dann<br />

schon früher in der katholischen<br />

Messe den Ministrantendienst<br />

versehen dürfen,<br />

gäbe es gar weibliche Geistliche,<br />

Zelebrantinnen der Verwandlung<br />

von Wein in Blut?<br />

Dürften sie o.b.-bewehrt das<br />

Blut opfer feiern, weil sie selbst<br />

nicht mehr bluteten, jedenfalls nicht sicht-<br />

und riechbar?<br />

Das ist eine der großen Fragen, die Ulf<br />

Erdmann Zieglers Roman aufwirft. o.b. und<br />

Eucharistie, Menstruationsblut und Blut der<br />

Wandlung, Kommunionkinder und Charles<br />

Wilps Afri-Cola-Nonnen hinter beschlagenen<br />

Glasscheiben, Sex im Aschram und der<br />

heilige Yogi, Letraset-Buchstaben und die<br />

Heilige Schrift, Katechismus und Werbetexte<br />

im Düsseldorf der siebziger, achtziger Jahre:<br />

Das sind Kon fron ta tio nen, mit denen<br />

Ziegler spielt. Dabei geht es ihm durchaus<br />

um den inneren Zusammenhang zwischen<br />

der modernen Gesellschaft und den spirituellen<br />

Sinnwelten.<br />

Ein Architekt, ein Designer, ein Typograf<br />

organisieren Räume und Zeichen, die Bedeutung<br />

tragen, ohne dass man sie bemerken<br />

muss. Das war schon in Zieglers erstem Roman<br />

Hamburger Hochbahn ein Thema. Im<br />

neuen Roman geht es um Schrifttypen und<br />

Typografie und ihre Anwendung in der<br />

Werbe indus trie. Die puristische Moderne<br />

und die Überlieferung des Abendlandes sind<br />

das Spannungsfeld des Buches. Und es ist<br />

von Anfang an klar, dass dieses Verhältnis<br />

sich in Übergängen, Spiegelungen, Konversionen,<br />

Übersetzungen und geheimen Identitäten<br />

ausdrückt, nicht in Gegensätzen und<br />

Ausschlüssen.<br />

Ebenso klar ist, dass Nichts Weißes dem<br />

rätselhaften Titel zum Trotz kein intellektueller<br />

Essay ist, sondern ein Roman mit richtigen<br />

Figuren und vielen Geschichten, die von<br />

der Beinahe-Gegenwart bis in die unmittelbare<br />

Nachkriegszeit und manchmal darüber<br />

hinaus zurückreichen: ein Familien-, Gesellschafts-,<br />

Entwicklungsroman, wie geschaffen<br />

für den Deutschen Buchpreis, auf dessen<br />

Shortlist er inzwischen steht. Zeitgeschichte<br />

spiegelt sich in Familien- und individuellen<br />

Schicksalsgeschichten.<br />

Und das sieht in etwa so aus: Marleen, zentrale<br />

Figur des Romans, ist die Tochter eines<br />

erfolgreichen Werbers und einer Gebrauchsgrafik<br />

produzierenden Mutter. Die fünfköpfige<br />

Familie zieht von Düsseldorf in einen modernistischen<br />

Vorort von Neuss namens Pomona,<br />

im späten Bauhausverhunzungsstil gebaut, und<br />

ist dort durchaus nicht glücklich. Was unter<br />

anderem mit den weltlich-geistlichen Konversionen<br />

zu tun hat, die fast alle Familienmitglieder<br />

erfassen: Der flotte Vater namens Petrus,<br />

der ebenjene »Ohne Binde«-Hygienekampagne<br />

gestartet hat und damit die Frauenrolle, das<br />

Freiheitsgefühl, die intime Verfassung der Republik<br />

verändert hat, dieser Petrus wird von<br />

einem Sinnhunger befallen, der ihn vom ruhelosen<br />

Dasein als Jet set-Geschäftsmann zwischen<br />

New York, Hongkong und Delhi nach Poona<br />

führt, wo er Anhänger des heiligen Rolls-<br />

Royce-Fahrers Shree Rajneesh wird, sprich ein<br />

Sannyasi. Mutter Lore verguckt sich ihrerseits<br />

in einen katholischen Kaplan der Kirchengemeinde,<br />

in der die Töchter, namentlich die<br />

Die ersten Tampons haben nicht nur die innere<br />

Verfassung der Republik verändert.<br />

Sie warfen auch schwerwiegende religiöse Fragen auf<br />

kampagne aufzog. Der sexuell-säkularisationsgeschichtliche<br />

Untergrund des Romans wird<br />

bald überdeutlich. Marleens erste große Liebe<br />

Franziskus verlässt sie, nachdem er ihr ein Kind<br />

gemacht hat, um in einen katholischen Orden<br />

einzutreten. Johanna liegt weinend vor dem<br />

Bild des nackten zwölfjährigen o.b. bewerbenden<br />

Illustrierten-Mädchens, den Katechismus<br />

neben sich, aus dem der tröstende Papa Petrus<br />

ihr vorliest. Am selben Abend liegen die Eheleute<br />

im Bett und überlegen, ob Johanna wohl<br />

eifersüchtig sei, auf die o.b.-Kampagne, auf<br />

Papa Petrus, auf den Papst, und dabei lässt Lore<br />

»ihre Hand in seine seidene Pyjamahose gleiten«<br />

und flüstert: »Ihr werdet ein Fleisch sein.«<br />

Untergrund, Hintergrund, Figur<br />

und Grund: Nach diesem Muster<br />

entwickelt sich noch ein<br />

anderes, eher erkenntnistheoretisches<br />

Problem im Roman, eigentlich<br />

das reizvollere, das sich daraus ergibt,<br />

dass wir etwas immer nur in Abgrenzung zu<br />

etwas anderem wahrnehmen können oder<br />

schönen bildlichen Anschluss an die Kinderkommunion,<br />

die Unbeflecktheit Mariens,<br />

die o.b.-Trägerinnen, die weißen Pomonavillen<br />

und was da sonst alles weiß durch den<br />

Roman gespenstert.<br />

Seltsamerweise hat sich Ziegler in seinem<br />

Neuss-Düsseldorf-Buch den Weißheitsfuror<br />

der Persil-Werbung des dortigen Henkel-Konzerns<br />

entgehen lassen, der metaphorisch überdeutlich<br />

den Sauberkeits- und Weißheitswahn<br />

der deutschen Nachkriegsgesellschaft verkörpert<br />

– alles wurde blütenweiß gewaschen und<br />

von der historischen Schuld des Nationalsozialismus<br />

von Grund auf gereinigt. Nur in einem<br />

Interview von Petrus kommt das vor, wenn er,<br />

selbst Werbeguru geworden, einer Illustrierten<br />

erläutert, dass er die Nazibeschriftung durch<br />

die Napola, der er als Kind ausgesetzt war,<br />

überwinden musste.<br />

Man muss an dieser Stelle auf einen zu<br />

Unrecht halb vergessenen Roman von Dieter<br />

Forte, Auf der anderen Seite der Welt, hinweisen,<br />

der von der Düsseldorfer Werbeszene ab den<br />

fünfziger Jahren handelt, im starken Zusam-<br />

menhang mit der Kunstakademie und dem<br />

Henkel-Konzern. Die Geschichte der Bundesrepublik<br />

und ihrer zunehmenden Einbindung<br />

in die westliche Konsumwelt über Werbung,<br />

Grafik und Kampagnen zu erzählen wäre überhaupt<br />

von höchstem Reiz.<br />

Ulf Erdmann Zieglers Roman leistet durchaus<br />

einen gewissen Beitrag dazu, obwohl er<br />

mehr an der Metaphysik des Buchstabens und<br />

anderen intellektuellen Kostbarkeiten interessiert<br />

ist. Die gute Romankonstruktion leidet<br />

unter dieser Fracht. Jede Episode, jede Bemerkung<br />

wird im Zieglerschen Idealfall dreimal<br />

codiert. Alles spielt auf vielen Ebenen gleichzeitig.<br />

Der Roman ist von einem überfordernden,<br />

leicht snobistischen Ästhetizismus geprägt.<br />

Man sieht die Mittel, erkennt die Technik,<br />

bewundert des Autors Fingerfertigkeit, doch<br />

ebendies, das Demonstrative, die modernistische<br />

Angeberei, ärgert ein wenig.<br />

Diese Sichtbarkeit des Könnens<br />

steht in Spannung zur Arbeit<br />

Marleens. Sie möchte eine<br />

Schrift entwickeln, die »alle<br />

Vorzüge aller existierenden<br />

Schriften hat und alle Nachteile Buchstabe<br />

für Buchstabe überwindet«. Herauskommen<br />

soll dabei eine Schrift, »die man gar nicht<br />

bemerkt«. Diese Idee von einem beinahe<br />

unsichtbaren, aber dennoch bedeutungstragenden<br />

Zeichen zieht sich durch das gesamte<br />

Buch – und ist zugleich eine euphorisierende<br />

Chiffre in der modernen Kunst. Marleen<br />

trifft auf ihrer Suche nach dieser geheimnisvollen<br />

Schrift einen Schweizer<br />

Schriftentwickler in Paris, der eine solche<br />

Schrift type schon erfunden hat. Nicht zufällig<br />

heißt sie Tempi Novi. Ihr Erfinder<br />

wird mit dieser eigenschaftslosen modernen<br />

Schrift zum »Gott der Gottlosigkeit« und<br />

Marleen eine »Ketzerin, die nun gezwungen<br />

wäre anzuerkennen, dass den Kult der Gottlosigkeit<br />

zu begründen nicht mehr möglich<br />

wäre«. Unter dieser Großmetaphorik tut es<br />

der Roman an keiner Stelle.<br />

Trotzdem kommt er gut in der Welt herum.<br />

Zur Ausbildung Marleens geht es nach Nördlingen<br />

in eine Druckerei, die der Anderen Bibliothek<br />

von Franz Greno zum Verwechseln ähnelt,<br />

dann nach Kassel zum Studium, nach Paris in<br />

eine Agentur und schließlich in die USA, wo<br />

nach der Blei- und der Lichtsatz-Phase jetzt die<br />

digitalen Schriften entwickelt werden. In den<br />

späten Achtzigern, als Marleen bei IOM arbeitet,<br />

einem IBM nachempfundenen Unternehmen,<br />

endet der Roman, der mit ihrem Weg<br />

in die USA begonnen hat. Unterwegs haben wir<br />

viel gelernt über die Lebendigkeit der Schrift,<br />

die ja eine paulinische ist, eine lutherische und<br />

eine typografische.<br />

Die Eigenschaftslosigkeit ist dabei ein Ideal,<br />

das Ziegler nicht nur beschwört, sondern auch<br />

inszeniert. Was seine Romanheldin Marleen<br />

angeht, gelingt ihm das vorzüglich. Für den<br />

Roman selbst gilt das allerdings nicht. Er ist in<br />

seiner Form und mit seinen Zeitsprüngen als<br />

Kunstwerk jederzeit gut sichtbar. Er lenkt die<br />

Leseaufmerksamkeit hochgradig auf sein Gemacht-,<br />

sein Gekonntsein. Ein Jota zu viel für<br />

ein ästhetisches Programm der Weißwäsche, der<br />

Dezenz, der Diskretion und des Sich-unsichtbar-Machens.<br />

Als hygienisches Vorzeigestück<br />

blutet und riecht das Buch zwar nicht, doch dass<br />

es voll von Bedeutung und sinnschwanger wie<br />

die trächtige Muttergottes ist, das will es uns<br />

allzu deutlich sagen.<br />

Fotos [M]: Johnson & Johnson (l.); www.launer.com<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 47<br />

GEDICHT: RICHARD BRAUTIGAN<br />

(1935–1984)<br />

Liebesgedicht<br />

Es ist so schön,<br />

morgens ganz allein<br />

aufzuwachen<br />

und keinem sagen zu müssen,<br />

dass man ihn liebt,<br />

wenn man ihn nicht mehr<br />

liebt.<br />

Richard Brautigan: Ausgewählte Texte<br />

Aus dem Englischen von Günter Ohnemus u. a.;<br />

Hoffmann und Campe, Hamburg <strong>2012</strong>;<br />

128 S., 12,– €<br />

WIR RATEN ZU UND AB<br />

Buch zur Tasche<br />

Von allen Gegenständen, die mit Kin deraugen<br />

beschaut werden, ist die Handtasche<br />

der märchenhafteste. Klein und handlich<br />

schwankt sie am Arm der Mutter, und es<br />

entspringen ihr im Laufe eines nachmittäglichen<br />

Spaziergangs eine Flut an Gerätschaften,<br />

die unmöglich allesamt in ihr Platz finden<br />

können: Taschentücher und ein Notizblock,<br />

ein Lippenstift und die dicke Geldbörse,<br />

Fisherman’s Friend und Obst, heute<br />

vermutlich auch ein Smart phone samt Kabelsalat.<br />

Ein Durch ein an der muss in so einer<br />

Handtasche ja herrschen, doch findet<br />

die Hand sofort immer das, was sie sucht.<br />

Es ahnt schon der heranwachsende Junge,<br />

dass darin auch Diskretes Platz findet. Aber<br />

niemals würde er die Tasche heimlich öffnen.<br />

Er ahnt, dass ihn nichts stärker an die<br />

Mutter bindet als das Ungezeigte. Und<br />

nichts fürchtet er natürlich mehr als das Erwachsenwerden.<br />

Jetzt, endlich, hat Jean-<br />

Claude Kaufmann das Buch zur Handtasche<br />

geschrieben. ADAM SOBOCZYNSKI<br />

Völlig unnötig<br />

Der Soziologe Jean-Claude Kaufmann hat<br />

ein Frauenbuch geschrieben. Über Handtaschen<br />

– rosa Cover mit roter Lacktasche aus<br />

den Neunzigern. Wer braucht das? Frauen<br />

wissen um ihr in der Tasche lebendes erweitertes<br />

Ich, sie müssen dazu nichts lesen – es<br />

sei denn, sie tragen rote Lacktaschen aus<br />

den Neunzigern, dann herrscht Nachholbedarf.<br />

Kaufmann gelingt es nicht, über Stereotype<br />

hinauszukommen. Dass Frauen mit<br />

Papier in der Tasche (zum Lesen oder<br />

Schreiben) eher intellektuell sind und Frauen<br />

mit vielen Kunden- und Kreditkarten<br />

eher shoppingsüchtig, hätte man vermuten<br />

können. Als es auf Seite 120 interessant zu<br />

werden droht, rät der Autor: »Die Leser,<br />

denen dies zu komplex ist, können problemlos<br />

die folgenden Seiten überspringen.«<br />

Ernsthaft? NIKOLA HELMREICH<br />

Jean-Cl. Kaufmann:<br />

Privatsache Handtasche<br />

UVK Verlagsgesellschaft <strong>2012</strong>; 198 S., 19,99 €

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!