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DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

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REISEN<br />

Der Kerker in der umbrischen<br />

Kleinstadt Narni liegt drei Meter<br />

unter der Erde. Höchstens<br />

acht Quadratmeter ist die Zelle<br />

groß. Durch eine vergitterte<br />

Öffnung in der Decke gelangt Licht herein und<br />

fällt auf die Zeichen an den Wänden: Striche für<br />

abgesessene Stunden, Kreuze, geheimnisvolle<br />

Zahlenfolgen, eine aufgehende Sonne, ein abnehmender<br />

Mond. Neben der Kerkertür ist ein<br />

Satz tief in den Stein eingekerbt, die Buchstaben<br />

ziehen sich über die gesamte Länge der Wand.<br />

Offenbar wollte ihr Graveur sicherstellen, dass<br />

sie die Zeit überdauern: »Ich, Giuseppe Andrea<br />

Lombardini, wurde hier am 4. Dezember 1759<br />

eingekerkert.« Darunter ein weiteres Wort, fast<br />

unlesbar, man muss ganz nah herangehen, um<br />

es zu entziffern: »innocente«, unschuldig.<br />

»Lombardini – jahrzehntelang hat mich<br />

dieser Name verfolgt«, sagt Roberto Nini. Er<br />

hat den Kerker entdeckt, als er 19 Jahre alt<br />

war. Heute ist er 53, ein schlanker Mann,<br />

hochgewachsen und ungewöhnlich blass für<br />

einen Italiener. Das graue Haar hat er zum<br />

Seitenscheitel gekämmt. Nini redet schnell,<br />

mit heiserer Stimme. Wenn er geht, hält er<br />

den Kopf geduckt und bewegt kaum die<br />

Arme, als ob er unbemerkt bleiben wolle.<br />

Umso mehr überrascht die Entschlossenheit in<br />

seinen Worten, als er sagt: »Lombardinis Geschichte<br />

musste ans Licht.«<br />

Gut eine Stunde braucht der Zug von Rom<br />

nach Narni. Die meisten Touristen fahren vorbei<br />

und ahnen nichts von den kulturellen Schätzen<br />

der Stadt, die sich auf einem Hügel erhebt: Einst<br />

stand hier eine der größten Brücken, die die Römer<br />

je gebaut haben, die Ponte d’Augusto. Einer<br />

ihrer ehemals vier Bögen ragt noch immer empor<br />

aus dem Nera, ein kolossales Tor von 30 Metern<br />

Höhe. Der jahrtausendealte Aquädukt, der unterirdisch<br />

die Stadt durchzieht, ist begehbar, man<br />

kann hinabsteigen und durch die Wasserleitung<br />

spazieren. Und ganz oben auf der Hügelkuppe<br />

thront die Festung Albornoz – im Mittelalter ein<br />

Bollwerk päpstlicher Macht.<br />

Am Ortsrand steht eine mächtige Dominikanerkirche.<br />

Nur wenige Meter entfernt davon<br />

fällt eine Schlucht steil ab in die Tiefe; auf der<br />

anderen Seite erheben sich die Felszähne des<br />

Apennin, und alte Klöster ragen aus den bewaldeten<br />

Gebirgshängen. »Auch hier oben<br />

stand mal ein Kloster«, sagt Nini und deutet<br />

auf ein paar überwachsene Mauerreste hinter<br />

der Kirche: »Päpste und Kardinäle kamen auf<br />

ihren Reisen darin unter.«<br />

Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude<br />

zerstört, ein Gärtner baute später zwischen den<br />

Trümmern Gemüse an. Nini kann sich noch erinnern,<br />

wie er und seine Freunde an einem Nachmittag<br />

im Mai 1979 an einer der Steinmauern<br />

das Abseilen übten. Damals war er der Anführer<br />

einer Gruppe Jugendlicher, die sich banda del<br />

buco, die Höhlenbande, nannte. Kein Brunnen,<br />

kein Schacht in Narni war vor ihnen sicher.<br />

»Du Elender!«, schrie ihn der Gärtner an,<br />

als Nini bei seinen Übungen auf ein Gemüsebeet<br />

fiel und den Salat zertrampelte. Als der alte<br />

Mann jedoch von den Kletterkünsten der Jungen<br />

erfuhr, erzählte er ihnen von einem Schatz,<br />

der unter den Trümmern vergraben sein sollte.<br />

Er führte sie zum einzigen intakten Raum der<br />

Klosterruine – eine unterirdische Kammer im<br />

Nachbargarten, bei den Gandolfis. Die Familie<br />

nutzte sie als Lagerraum. An der hinteren<br />

Wand befand sich eine zugemauerte Tür. Nini<br />

und seine Freunde brannten darauf, die Mauer<br />

einzuschlagen, doch die Gandolfis verboten es.<br />

Zu gefährlich, sagten sie. Nini lächelt und zieht<br />

Schultern und Augenbrauen hoch.<br />

Seine Freunde und er, erzählt er, hätten den<br />

Corsa all’Anello abgewartet, Narnis bedeutendstes<br />

Stadtfest. Der ganze Ort war an jenem<br />

Abend auf der Straße, Trommlergruppen zogen<br />

durch die Stadt, niemand hörte, wie die sechs mit<br />

Axt und Hammer die Mauer einschlugen. Ganz in<br />

der Nähe waren sie erst kurz zuvor bei einer ihrer<br />

Expeditionen auf eine unterirdische Kirche gestoßen.<br />

Doch der Raum, den sie nun fanden, übertraf<br />

all ihre Erwartungen.<br />

Die Aufregung ist Nini immer noch anzuhören,<br />

wenn er Touristen heute seine Entdeckung zeigt. Nach<br />

der eingeschlagenen Türe folgt ein enger Gang – dann<br />

ist man da: An den Wänden des Gewölbes brennen<br />

Fackeln, auf dem Boden stehen Kopien mittelalterlicher<br />

Foltergeräte, eine Streckbank, eine Daumenschraube.<br />

Von der Decke hängt ein Strick, mit dem<br />

die Arme der Gefangenen ruck artig in die Höhe gerissen<br />

wurden. Die Gräuelwerkzeuge hat Nini nachträglich<br />

hergebracht. Damals, im Frühjahr 1979, war<br />

der Saal leer, und die Jungen wussten nichts über<br />

seine Geschichte. »Aber wir fanden Knochen«, sagt<br />

Nini. Und hinter einer Holztüre, die von dem Raum<br />

wegführt, den Kerker. An der Wand gegenüber von<br />

Lombardinis Namen entdeckten sie außerdem die<br />

Inschrift »S. Uffizio« – der Palazzo del Sant’Uffizio,<br />

das Gebäude der In qui si tionszentrale im Vatikan.<br />

Gegen Mitte des 16. Jahrhunderts hatte die In quisi<br />

tion in Italien an Schärfe zugenommen. Luther, dem<br />

Reformator, liefen die Menschen in Scharen zu, der<br />

Papst musste handeln – und gründete die Heilige Römische<br />

und Universale Inquisition mit zwölf Kardinälen<br />

an der Führungsspitze. Diese sollten über die<br />

reine Lehre des Katholizismus wachen. Stellvertreter<br />

wurden in die Provinz entsandt. Bald waren Nord-<br />

und Mittelitalien von einem feinmaschigen Netz an<br />

In qui si tions ge rich ten überzogen.<br />

»Was genau geschah hier unten 1759 mit Lombardini?<br />

Das haben wir uns damals gefragt«, sagt<br />

Nini im flackernden Licht der Fackeln. »Hatte hier<br />

im Verborgenen etwa eines der lokalen In qui si-<br />

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Der Gefangene von Narni<br />

Giuseppe Lombardini war ein Opfer der Inquisition. Drei Jahrzehnte lang hat der Historiker Roberto Nini<br />

den Fall erforscht. Heute zeigt er Touristen den Kerker in der umbrischen Hügelstadt VON JULIA REICHARDT<br />

tionsgerichte getagt?« Priester und Henker, die über<br />

Ketzer, Ehebrecher und Gotteslästerer richteten<br />

und Abtrünnige so lange quälten, bis sie mit letzter<br />

Kraft abschworen? Der Gedanke schien zu unheimlich,<br />

um wahr zu sein. »Wem immer wir unsere<br />

Vermutungen erzählten: Die Leute hielten uns<br />

für verrückt«, sagt Nini. »Einige glaubten sogar, wir<br />

hätten die Zeichen selbst in die Wände geritzt.«<br />

Nach dem Kerkerdunkel blendet draußen grell das<br />

Tageslicht. Der Ort liegt verschlafen in der Sonne; nur<br />

ein paar dreirädrige Kleintransporter rasen durch die<br />

Gassen. Wie Rapunzelzöpfe hängen Efeuranken<br />

von mittelalterlichen Türmen.<br />

Statt Souvenirs stehen Pasta tüten<br />

und Haarfärbemittel in den<br />

Schaufenstern. Von den Fassaden<br />

flattern die Wimpel vom<br />

vergangenen Stadtfest. In den<br />

Cafés sitzen alte Männer in<br />

Unterhemden, mit weit über<br />

den Bauch gezogenen Hosen.<br />

An der Piazza dei Priori,<br />

einem von Palazzi umgebenen<br />

Platz im Zentrum, liegt die Bibliothek.<br />

Im Lesesaal schlägt Nini<br />

ein in Leder gebundenes Buch auf: Er<br />

will die ersten Indizien zeigen, die er<br />

Orvieto<br />

Perugia<br />

UMBRIEN RIEN<br />

NARNI<br />

Nera<br />

damals für seine These fand. Der Band enthält<br />

Narnis Magistratsbeschlüsse vom Anfang des 18.<br />

Jahrhunderts. »Mittwoch, 17. April 1726:«, steht<br />

auf Seite 65 mit schwarzer Tinte in lateinischer<br />

Sprache, »Domenico Sciabocco wurde von der Heiligen<br />

In qui si tion wegen illegaler Heirat in den Kerker<br />

von S. Maria Maggiore gesperrt.« Santa Maria<br />

Maggiore: So hieß, das hatte er inzwischen herausgefunden,<br />

die unterirdische Kapelle neben dem<br />

Kerker. Damit war bewiesen: Auch in Narni hatte<br />

die In qui si tion gewütet.<br />

Terni<br />

<strong>ZEIT</strong>-GRAFIK<br />

20 km<br />

Für viele Hobbyforscher wäre die Suche nach<br />

diesem Fund zu Ende gewesen. Für Nini aber fing sie<br />

erst richtig an. »Ich hatte das Verlies entdeckt«, sagt<br />

er. »Und der Name an der Wand, Giuseppe Andrea<br />

Lombardini, ließ mich nicht mehr los.« Seinetwegen<br />

studierte er Archäologie und mittelalterliche Geschichte,<br />

gründete später den Verein Narni Sotterranea,<br />

Unterirdisches Narni. Mit Spendengeldern ließ er die<br />

Kerkerräume restaurieren. Mehrfach beantragte Nini<br />

auch eine Forschungserlaubnis für das Archiv im Palazzo<br />

del Sant’Uffizio in Rom, wo 4500 Aktenbündel<br />

in 27 Sälen lagern, ein halbes Jahrtausend<br />

In qui si tion. Doch der Vatikan schwieg.<br />

Erst im Jahr 2006 nahm die Recherche<br />

eine unverhoffte Wendung.<br />

Ein Archivar, der an Ninis<br />

Spoleto<br />

ROM<br />

LATIUM M<br />

Kerkerführung teilgenommen<br />

hatte, verschaffte ihm die lang<br />

ersehnte Forschungserlaubnis<br />

für das In qui si tions archiv. Einen<br />

Monat lang pendelte Nini<br />

zwischen Narni und Rom, jede<br />

freie Minute verbrachte er mit<br />

Protokollen über Verhörmethoden<br />

und Foltertechniken, Urteilen<br />

gegen Ketzer, andere Abtrünnige und<br />

Juden, überall suchte er nach Lombardi-<br />

ni. Zahllose Einzelschicksale lagen vor ihm ausgebreitet,<br />

akribisch aufgezeichnete Gräueltaten, die<br />

im Namen der Kirche begangen wurden. »Irgendwann<br />

bin ich dann auf einen Grundriss der Inquisitionskammern<br />

gestoßen, die ich in Narni entdeckt hatte.«<br />

Jeder Raum war beschriftet: das Verhörzimmer, in<br />

dem heute die Folterwerkzeuge stehen, die unterirdische<br />

Kirche, der Kerker ... und noch ein zweites Verlies:<br />

Die zugemauerte Türöffnung, hinter der es lag,<br />

hatten Nini und seine Freunde bereits zu durchbrechen<br />

versucht – sich aber aus dem Staub gemacht, als<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 63<br />

sie die erschrockenen Stimmen der Gandolfis durch<br />

die Wand gehört hatten. Rosita Gandolfi, 72, wusste<br />

damals nicht, dass es ein ehemaliger Kerker war, in<br />

dem sie ihr Schlafzimmer eingerichtet hatte.<br />

»Im Fe bru ar 2006«, erzählt Roberto Nini, »saß<br />

ich wieder im Inquisitionsarchiv über Prozessakten<br />

von 1760.« Er schlug das Namensverzeichnis auf,<br />

glitt mit dem Finger über die Liste – erstarrte. »Auf<br />

der Mitte der Seite las ich den Namen: Giuseppe<br />

Andrea Lombardini.« Er hatte ihn gefunden. Und<br />

auch den Grund für die Inhaftierung: Lombardini<br />

war selbst Leiter des In qui si tions ge fäng nis ses von<br />

Spoleto gewesen. Er war ertappt worden, als er versuchte,<br />

einen Häftling zu befreien, der ihn in die<br />

Gedankenwelt der Freimaurer eingewiesen hatte.<br />

Wenn Roberto Nini heute auf der Pritsche hockt,<br />

die er in Lombardinis Kerker gestellt hat, gleitet sein<br />

Blick etwas ruhiger über die Kreuze, Zahlenfolgen,<br />

Sonnen und Monde an den Wänden als früher. Nicht<br />

nur Lombardinis Geschichte, auch ein paar Zeichen<br />

hat er inzwischen entschlüsselt. Sie wurden mit einer<br />

Mischung aus Kalk und Urin aufgetragen. »70 Prozent<br />

der Gravuren«, glaubt Nini, »stammen von Lombardini.<br />

Es sind Geheimzeichen der Freimaurer.«<br />

Es sind auch die letzten Spuren des Mannes, der<br />

ihn fast 30 Jahre lang beschäftigt hat: Nini weiß nur,<br />

dass Lombardini nach etwa drei Monaten Haft auf<br />

dem Marktplatz als Ketzer zur Schau gestellt, vom<br />

Volk verhöhnt und ins Exil getrieben wurde. Mehr<br />

war nicht herauszufinden. Nini hält die Hände gefaltet.<br />

Er sagt, er empfinde es als seine Aufgabe, Lombardinis<br />

Geschichte weiterzuerzählen. »Mein halbes<br />

Leben lang hat er mich begleitet«, sagt er und richtet<br />

dabei seinen Blick auf den Boden. »Lombardini ist<br />

wie ein Bruder für mich.« Hier unten im Kerker könne<br />

er ihn manchmal sogar spüren, direkt neben sich.<br />

www.narnisotterranea.it<br />

Narni wird<br />

überragt von der<br />

Festung Albornoz.<br />

Unten: In diesem<br />

Kerker saß<br />

Giuseppe<br />

Lombardini 1759<br />

drei Monate lang<br />

in Haft<br />

Fotos: Marco Santarelli

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