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DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

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POLITIK<br />

Peking<br />

Es ist, als habe man dem Volkszorn einen<br />

Zoo gebaut, mit Zäunen und mit<br />

vielen Wärtern. Die Wutbürger marschieren<br />

in abgesteckten Bahnen vor<br />

der japanischen Botschaft auf und ab,<br />

beobachtet von Polizisten und Sondereinsatztruppen,<br />

am Himmel kreist ein Helikopter. Tausende<br />

protestieren hier, das Spektrum reicht vom<br />

Wanderarbeiter mit gelbem Bauhelm bis zur wie<br />

für einen Auftritt geschminkten Studentin.<br />

Es ist Dienstag, der 18. September, Jahrestag<br />

der japanischen Invasion Chinas 1931. Immer<br />

schon ein bitteres Datum, aber heute geht es<br />

um die Gegenwart, um einige winzige Inseln im<br />

Ostchinesischen Meer, wegen derer sich China<br />

und Japan gerade am Rand eines militärischen<br />

Konfliktes bewegen.<br />

»Die Diaoyu-Inseln sind unser«, rufen die<br />

Demonstranten. »Erklärt Japan den Krieg!« –<br />

»Nur mit den Gedanken des Großen Vorsitzenden<br />

werden wir Japan schlagen können«, steht<br />

auf einem Mao-Poster. »Massakriert Tokio!«,<br />

heißt es auf einem anderen Plakat. »Boykottiert<br />

japanische Waren!« Andere appellieren weniger<br />

martialisch an den »rationalen Patriotismus«.<br />

So heißt die offizielle Protesthaltung, ausgegeben<br />

von der chinesischen Regierung, nachdem<br />

es am Wochenende bei Demonstrationen in 85<br />

Städten zu Ausschreitungen gekommen war.<br />

Japaner wurden verprügelt, japanische Autos<br />

und Geschäfte demoliert, eine Toyota-Niederlassung<br />

in Tsingtao ging in Flammen auf. Die<br />

neue Praxis der staatlichen Zornkontrolle beobachtete<br />

die Hongkonger Zeitung Ming Pao<br />

am Wochenende, als Zivilpolizisten dem Demonstrationsvolk<br />

die Regeln erklärten: »Wir<br />

wissen, dass ihr sehr wütend seid, doch da draußen<br />

warten eine Menge ausländischer Journalisten.<br />

Zeigt die Qualität chinesischer Bürger.<br />

Singt die Nationalhymne. Lacht nicht, wenn<br />

ihr nicht lachen solltet. Und spielt nicht mit<br />

euren Handys.«<br />

Es sind die heftigsten antijapanischen Proteste,<br />

seit beide Länder im Jahr 1972 ihre Beziehungen<br />

normalisierten. Selbst die USA, die<br />

Chinas Streitigkeiten mit Nachbarn gern für<br />

ihre Zwecke nutzen, rufen zur Mäßigung<br />

auf. All das wegen einiger unbewohnter<br />

Inseln im Ostchinesischen Meer, die noch<br />

nicht einmal dem japanischen Staat, sondern<br />

einer Familie gehören?<br />

Senkaku nennen die Japaner die Inseln,<br />

Diaoyu heißen sie in China. Kontrolliert werden<br />

sie von Japan, was weder Peking noch Taiwan<br />

anerkennen. Die Chinesen bemühen Dokumente<br />

aus der Ming-Zeit, um ihre Ansprüche<br />

zu untermauern. Japan behauptet, sie 1884 entdeckt<br />

und keinerlei Spuren chinesischer Präsenz<br />

vorgefunden zu haben. Doch erst 1895, während<br />

des Ersten Japanisch-Chinesischen Krieges,<br />

verleibte sich Japan die Inseln ein. Nach der<br />

japanischen Kapitulation 1945 wurden sie von<br />

den USA kontrolliert, die sie 1972 an Japan zurückgaben<br />

– ohne dass die Souveränitätsfrage<br />

endgültig geklärt gewesen wäre. Ein heikler<br />

Schritt, zumal Öl- und Gasvorkommen in der<br />

Region vermutet werden.<br />

Doch Tokio und Peking verständigten sich<br />

prompt, dass der ungelöste Inselkonflikt die<br />

Beziehungen nicht belasten dürfte. Beide Seiten<br />

hielten sich daran – bis im Jahr 2010 ein chinesischer<br />

Fischer nahe der Inseln zwei japanische<br />

Patrouillenboote rammte. Wie betrunken der<br />

Mann war, ist bis heute umstritten. Jedenfalls<br />

löste seine Karambolage eine diplomatische Eskalation<br />

sondergleichen aus. Japan verhaftete<br />

den Seemann und weigerte sich, ihn auf Gesuch<br />

Chinas zu entlassen. Peking brach daraufhin<br />

die politischen Kontakte ab und stoppte<br />

den Export seltener Erden, welche der japanische<br />

Hightech-Sektor dringend benötigt. Eine<br />

Provokation gab die andere. Vergangene Woche<br />

schließlich kaufte die japanische Regierung der<br />

Familie die Inseln für 26 Millionen US-Dollar<br />

ab. Eigentlich eine Maßnahme der De es ka lation,<br />

denn die Regierung kam damit dem ultrarechten<br />

Gouverneur von Tokio als Käufer zuvor.<br />

Doch Peking und die chinesische Presse<br />

waren nicht mehr zu besänftigen.<br />

Sie wollen sich derzeit auch gar nicht besänftigen<br />

lassen. Die nationalistische Aufwallung<br />

kommt einer von Skandalen und Krisen geplagten<br />

Parteiführung durchaus gelegen, die zudem<br />

Winken von der Brücke<br />

Silvio Berlsuconi droht Italien mit einem Comeback. Vorher will er noch<br />

rasch den letzten unabhängigen Fernsehsender kaufen VON BIRGIT SCHÖNAU<br />

Rom<br />

Während seines Jurastudiums hatte Silvio<br />

Berlusconi auf Kreuzfahrtschiffen als<br />

Sänger gearbeitet, ein halbes Jahrhundert<br />

ist das her. Dass er jetzt nach Monaten in der<br />

politischen Versenkung auf der schneeweißen<br />

Divina (»die Göttliche«) sein Comeback verkünden<br />

wollte, erschien fast wie eine nostalgische<br />

Anwandlung: Mit 76 Jahren noch einmal dahin,<br />

wo alles begann, zu einem neuen Anfang. Daraus<br />

wurde nichts, was nicht nur daran lag, dass das<br />

Kreuzen auf dem Mittelmeer seit dem unrühmlichen<br />

Ende der Costa Concordia seinen Nimbus<br />

verloren hat. Auf der Divina reisten Leser des<br />

Berlusconi-Kampfblatts Il Giornale, die Kabine<br />

gab’s ab 980 Euro die Woche, den Ex-Premier als<br />

Stargast gratis dazu. Berlusconi schiffte sich in<br />

Venedig als Verheißung ein und ging in Bari als<br />

unerfülltes Versprechen von Bord. Denn selbst<br />

vor kleinem Publikum im Schiffstheater hatte er<br />

sich nicht durchringen können, seine Kandidatur<br />

für die Wahl im April 2013 anzukündigen.<br />

Halbherzig klang das Bekenntnis: »Ich fühle<br />

die Pflicht, zu verhindern, dass Italien der Linken<br />

anheimfällt.« Schal tönten die üblichen Wahlversprechen:<br />

Steuern senken, die neue Immobiliensteuer<br />

ganz abschaffen, »denn das Eigenheim ist<br />

das Fundament der italienischen Familie«. Montis<br />

Sparpolitik aber verhindere Wachstum und<br />

treibe Italien in die Rezession. Schuld daran seien<br />

jene Deutschen, die verhindern, dass die EZB<br />

»endlich Geld drucken kann«. Die deutsche<br />

Sparsucht laste auf Italien »wie ein Stein«.<br />

Während der Patriarch des »Freiheitsvolkes«<br />

gegen den Fiskalpakt wettert, haben seine Parlamentarier<br />

noch jedes Spargesetz der Regierung<br />

verabschiedet. Seit Berlusconis Rücktritt vor<br />

zehn Monaten unterstützt Parteisekretär Angelino<br />

Alfano den parteilosen Mario Monti im Verein<br />

mit dem Demokraten-Chef Pierluigi Bersani,<br />

einem Ex-Kommunisten.<br />

Alfano sei »der beste Politiker Italiens«, lobte<br />

Berlusconi vom Kreuzfahrtschiff. »Ich liebe ihn wie<br />

ein Vater seinen Sohn, und er bringt mir die Liebe<br />

eines Sohnes entgegen.« Demütig verharrt der<br />

41-Jährige Sizilianer in Wartestellung, bis sein Chef<br />

über die Kandidatur entscheidet. Wenn die Umfragewerte<br />

weiter im Keller bleiben, ist der getreue<br />

Vasall Alfano dran. Oder wenn das Mitte-Links-<br />

Bündnis tatsächlich Matteo Renzi, den jungen<br />

populären Bürgermeister von Florenz, als Kandidaten<br />

aufstellen würde: Gegen einen 37-jährigen<br />

würde Berlusconi wohl kaum antreten.<br />

Renzi tourt derzeit im Vorwahlkampf mit einem<br />

Wohnmobil durchs Land, Berlusconi<br />

kommt gerade aus dem gemeinsamen Urlaub in<br />

Kenia mit seinem Freund Flavio Briatore, einem<br />

Sportmanager, der zwischen Glamour und Halbwelt<br />

zu Hause ist und nach einer Sperre durch<br />

den Formel-1-Dachverband FIA ebenfalls an<br />

seinem Comeback feilt.<br />

Berlusconi und Briatore, das war das Italien<br />

der unaufhaltsamen Aufstiege, der zwielichtigen<br />

Geschäfte und schillernden Partys. Ein Italien,<br />

das jetzt hinter den grauen Kulissen der Rezession<br />

verblasst. Briatore hat seinen Klub Billionaire an<br />

der Costa Smeralda auf Sardinien geschlossen,<br />

gerade noch rechtzeitig, bevor die sardischen<br />

Kohle- und Metallarbeiter aus Angst um ihre Arbeitsplätze<br />

vergangene Woche in Rom Krawall<br />

schlugen. Berlusconi wurde am vergangenen Freitag<br />

ebenfalls in der Hauptstadt zum Fest der<br />

rechtskonservativen Jugendorganisation Giovane<br />

Italia erwartet. Im letzten Moment sagte er ab,<br />

vielleicht um lästigen Fragen auszuweichen. In<br />

Latium, der Region um Rom, versinkt das dort<br />

mit Rechtsextremen regierende »Freiheitsvolk« in<br />

einem Skandal um veruntreute Millionen aus der<br />

Parteikasse. Berlusconi schweigt dazu. Er konzentriert<br />

sich im Moment auf eigene Geschäfte.<br />

Sein Fernsehunternehmen Mediaset will von<br />

Telecom Italia den Sender La 7 übernehmen, das<br />

letzte landesweite unabhängige Fernsehen in Italien.<br />

Zu La 7 sind viele kritische Journalisten abgewandert,<br />

die sich nun entsetzt sind angescihts einer<br />

möglichen Übernahme durch Berlusconi. Selbst der<br />

erzkonservative Austroamerikaner Rupert Murdoch<br />

wäre der Belegschaft von La 7 als neuer Besitzer<br />

lieber. Die Schlacht um den Sender wird zeigen, wie<br />

weit Silvio Berlusconis Macht in Italien noch reicht.<br />

Felsen der<br />

Schande<br />

Droht ein Krieg? China und Japan streiten sich um<br />

fünf unbewohnte Inseln. Der<br />

Führung in Peking kommt das sehr gelegen<br />

CHINA<br />

VON ANGELA KÖCKRITZ<br />

JAPAN<br />

noch den internen Machtwechsel vorbereiten<br />

muss. Bloß lassen sich solche Aufwallungen<br />

nicht einfach wieder abstellen –<br />

schon gar nicht, wenn es gegen Japan geht.<br />

Japan ist der Hauptaggressor im chinesischen<br />

Narrativ von den hundert Jahren nationaler<br />

Erniedrigung. Die Kriege, die es beschreibt,<br />

sind nicht erfunden, das Trauma, das diese auslösten,<br />

ebenso wenig. Da waren zunächst die verlorenen<br />

Opiumkriege gegen die Briten, die das<br />

Kaiserreich Mitte des 19. Jahrhunderts bezwangen<br />

und Chinas jahrtausendealtes Selbstbild, die<br />

einzige wirkliche Großmacht auf Erden zu sein,<br />

zerstörten. Dann besiegte Japan, ehemals Tributstaat,<br />

das Kaiserreich im Ersten Japanisch-chinesischen<br />

Krieg von 1894 bis 1895 – und marschierte<br />

einige Jahrzehnte später auch noch in<br />

China ein. Der antijapanische Widerstandskampf<br />

während des Zweiten Weltkriegs war in<br />

gewisser Weise die Geburtsstunde der Volksrepublik.<br />

Erst durch den Widerstand konnten die<br />

Kommunisten die Sympathie der Massen gewinnen,<br />

die sie später zum Sieg gegen die Kuomintang<br />

tragen sollte. »Die Japaner besiegen und die<br />

Nation retten« wurde zum Gründungsmythos<br />

des jungen kommunistischen Staates. Mao befreite<br />

die Na tion aus den Ketten fremder Unterdrücker,<br />

er beendete das »Jahrhundert nationaler<br />

Erniedrigung« – auch wenn später Millionen im<br />

Zuge ihrer »Befreiung« ihr Leben lassen sollten.<br />

Den Nationalismus anzufächeln, hat sich für<br />

die Partei immer wieder als nützliche Strategie<br />

erwiesen. Nach dem Massaker 1989 auf dem<br />

Tiananmen-Platz bekämpfte die KP den öffentlichen<br />

Schock erfolgreich mit einem Trauerverbot<br />

für die erschossenen Demonstranten – und<br />

mit verordnetem Gedenken an die Opfer der<br />

Opiumkriege und der japanischen Invasion.<br />

Nun also der Kampf um Diaoyu mit den Mitteln<br />

des »rationalen Patriotismus«. Zu denen zählen<br />

offenbar auch sechs chinesische Patrouillenboote,<br />

die mit 1000 Fischkuttern im Schlepptau<br />

auf dem Weg zu den umstrittenen Inseln sind.<br />

Das zieht Aufmerksamkeit ab von dem immer<br />

noch nicht ausgestandenen Politskandal um den<br />

ehrgeizigen Provinzfürsten Bo Xilai, dessen Frau<br />

gerade wegen Mordes an einem britischen Ge-<br />

20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong> 9<br />

schäftsmann verurteilt wurde. Und vom Sohn<br />

eines Spitzenpolitikers, der kürzlich unbekleidet<br />

im Sportwagen und in Begleitung zweier halbnackter<br />

Frauen in den Tod raste. Schließlich verschwand<br />

auch noch der designierte Präsident Xi<br />

Jinping zwei Wochen lang von der Bildfläche.<br />

Das patriotische Theater lenkt nicht nur das Volk<br />

ab, es soll auch die Armee beschäftigt halten. Einige<br />

hochrangige Militärs gelten als Verbündete<br />

des gefallenen Provinzfürsten Bo, da kann es<br />

nicht schaden, etwaige unzufriedene Gemüter<br />

mit ein wenig Säbelrasseln zu beruhigen.<br />

Und doch hat der Nationalismus längst eine<br />

eigene Dynamik entwickelt, in der die Partei<br />

nicht mehr nur Antreiber, sondern manchmal<br />

auch Getriebener ist. Inzwischen hat sich ein patriotischer<br />

Diskurs gebildet sowie eine nationalistische<br />

Gemeinde, die Websites betreibt, politischen<br />

Druck ausübt und bisweilen der Regierung<br />

ihren Willen aufzwingt.<br />

Genau das macht das nationale Motiv der<br />

kollektiven Erniedrigung so gefährlich. Japan<br />

gibt den Chinesen dabei reichlich Anlass, sich zu<br />

empören. Die japanische Regierung entschuldigte<br />

sich nur zögerlich für die Gräueltaten während<br />

der Besatzung, die japanische Rechte bohrt bis<br />

heute gern in den chinesischen Wunden. Aber<br />

die ewige chinesische Propaganda von der historischen<br />

»Erniedrigung« provoziert gefährliche<br />

Rachebedürfnisse. »Sollte es einen neuen Krieg<br />

zwischen China und Japan geben«, schrieb unlängst<br />

die parteinahe Global Times, »muss es ein<br />

Krieg sein, durch den das chinesische Volk die<br />

Schande des vergangenen Jahrhunderts psychologisch<br />

reinwaschen kann.« Territoriale Kompromisse<br />

zugunsten Japans, so die Zeitung, würden<br />

China »doppelte Schande bringen«.<br />

Weder Peking noch Tokio wollen Krieg. Aber<br />

beide Seiten haben den Konflikt so weit eskalieren<br />

lassen, dass ein ungeplanter Zwischenfall –<br />

und sei es nur wieder ein betrunkener Fischer –<br />

unkontrollierbare Folgen haben könnte. Eine<br />

Demonstration kann man einzäunen. Den geballten<br />

Volkszorn eines ganzen Landes womöglich<br />

nicht.<br />

A www.zeit.de/audio

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