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DIE ZEIT 39/2012 - ElectronicsAndBooks

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Illustration: Anne Gerdes für <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong><br />

74 20. September <strong>2012</strong> <strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong> N o <strong>39</strong><br />

100 Jahre sollten sie halten<br />

Aber viele Brücken sind dem heutigen Verkehr nicht mehr gewachsen. Dann sind die Rechenkünste von Bauingenieuren gefragt VON CHRISTINE BÖHRINGER<br />

Wenn Gunnar Schönherr über<br />

neue Brücken fährt, dann fühlt er<br />

sich manchmal wie im Himmel:<br />

Auf dem Viadukt von Millau<br />

etwa, der längsten Schrägseilbrücke<br />

der Welt, hat man, sobald sich tief unten im<br />

südfranzösischen Tal des Flusses Tarn der Nebel<br />

staut, den Eindruck, man gleite auf den Wolken.<br />

Sind die Brücken jedoch alt, kehrt Schönherr ganz<br />

schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück:<br />

Automatisch scannt er die Bauwerke nach<br />

Schwachstellen ab. Ist eine Brücke für Laster über<br />

30 Tonnen gesperrt, muss er gar nicht erst weiter<br />

schauen. Dann weiß er: Sie ist noch verkehrssicher,<br />

aber marode – und die ihr verbleibenden Tage sind<br />

längst gezählt.<br />

Gunnar Schönherr, 33, ist Bauingenieur. Er<br />

konstruiert neue Brücken – und er berechnet, wie<br />

lange die alten noch halten werden. Rund 120 000<br />

Brücken gibt es in Deutschland, allein 37 000 verbinden<br />

Bundesstraßen und Autobahnen, die meisten<br />

wurden zwischen Mitte der sechziger und Mitte<br />

der achtziger Jahre errichtet. »Eigentlich wurden<br />

sie für die nächsten hundert Jahre gebaut«, sagt<br />

Gunnar Schönherr. Doch damals, bei ihrer Planung,<br />

legte man die meisten von ihnen für viel geringere<br />

Lasten aus, als sie heute tragen müssen.<br />

Denn eines hatte man nicht mit einkalkuliert: Es<br />

gibt mehr Verkehr als früher, besonders der Schwerverkehr<br />

hat überproportional stark zugenommen.<br />

Weil aber 40-Tonner auf Dauer die Substanz zermürben,<br />

werden die Brücken von Ingenieuren alle<br />

drei Jahre einer kleineren und alle sechs Jahre einer<br />

großen Prüfung unterzogen.<br />

Zwanzig Brücken hat Gunnar Schönherr, der<br />

2008 nach seinem Abschluss an der TU Berlin bei<br />

einem Planungsbüro einstieg, bislang gemeinsam<br />

mit Kollegen besichtigt. An das erste Mal kann er<br />

sich noch gut erinnern: die Zoobrücke in Köln,<br />

259 Meter Spannweite, fertiggestellt 1966, überquert<br />

von täglich 125 000 Fahrzeugen, getragen<br />

von zwei Stahlhohlkästen. Um alle Bauteile zu begutachten,<br />

muss man schwindelfrei sein und sich<br />

auf eine Art Laufsteg direkt unter der Fahrbahn<br />

hoch über dem Rhein stellen. »Brücken werden aus<br />

Beton und Stahl gebaut, weil Beton besonders gut<br />

Spannungen durch Druck aufnehmen kann. Stahl<br />

kann das auch, aber noch besser Spannungen durch<br />

Zug.« Sehen die Ingenieure bei ihrer Besichtigung<br />

Rost, ist das kein Problem – die Stellen können<br />

ausgebessert werden. Sehen sie hingegen Risse, ist<br />

das Material ermüdet, der Zug oder Druck zu groß.<br />

Dass bei einer Brücke etwas nicht stimmt, merken<br />

dann auch die Autofahrer: Ist plötzlich in beide<br />

Richtungen eine Fahrbahn für Lastwagen gesperrt<br />

oder sollen jetzt alle statt 50 Stundenkilometer nur<br />

noch 30 fahren, ist das der Versuch, die Brücke zu<br />

schonen, um dadurch ihre Lebensdauer zu verlängern.<br />

Im Hintergrund arbeiten die Ingenieure fieberhaft:<br />

»Wir ermitteln bei jeder beschädigten<br />

Brücke, wie lange man sie noch nutzen kann«, erklärt<br />

Schönherr. »Anhand der alten Pläne und der<br />

Verkehrsstatistik können wir dann zum Beispiel<br />

sagen: Die Last kann die Brücke noch 100 000 Mal<br />

tragen, dann ist Schluss. Das ist wie bei einer Büroklammer:<br />

Wenn man sie zu oft biegt, bricht sie irgendwann<br />

entzwei.« Es werden Überholverbote,<br />

Geschwindigkeits- und Gewichtsbeschränkungen<br />

eingeführt – und es wird versucht, die Brücke zu<br />

verstärken. Allein im vergangenen Jahr stellte der<br />

Bund 674 Millionen Euro für solche Sanierungen<br />

bereit. Hilft auch das nichts, kommen irgendwann<br />

die Abrissbagger – wie bei der Köhlbrandbrücke in<br />

Hamburg. Sie führt durch den Hafen und soll bald<br />

durch eine neue ersetzt werden.<br />

Die passende Lösung für eine Brücke zu finden<br />

ist für Schönherr oft »richtige Detektivarbeit«.<br />

Doch genau die mag er. Wurde die Brücke etwa<br />

falsch konstruiert? Oder ist sie dem aktuellen Verkehr<br />

nicht mehr gewachsen? Schon während seiner<br />

kaufmännischen Lehre bei einem Baubetreuer wurde<br />

er neugierig auf Materialien und wollte wissen,<br />

warum sich Stahl im Beton befindet, Gebäude<br />

überhaupt stehen bleiben und wofür man welche<br />

Baustoffe braucht. Er begann zu studieren – und<br />

spezialisierte sich auf Brücken. »Anders als bei Häusern<br />

ist ihre Konstruktion den Ingenieuren vorbehalten.<br />

Ich sehe, was ich tue, und trage dazu bei, die<br />

Infrastruktur aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln.«<br />

Das beste Anschauungsbeispiel fand<br />

Schönherr in der Heimat: In seiner Studienzeit wurde<br />

die Rügenbrücke zwischen das Festland und die<br />

Insel gesetzt. Ein 4,1 Kilometer langes, spektakuläres<br />

Werk aus 180 000 Tonnen Beton und 22 000<br />

Tonnen Stahl. Alle zwei Wochen fuhr Schönherr<br />

hin und beobachtete, wie Pfeiler aus dem Strelasund<br />

und Pylonen in den Himmel wuchsen. »Die Rügenbrücke<br />

vereint alles, was der Brückenbau bietet,<br />

da hätte ich am liebsten mitgewerkelt.«<br />

Wenn Schönherr selbst Brücken konstruiert,<br />

tut er das hingegen noch in anderen Dimensionen:<br />

Er hat bislang fünf Fußgänger- und Straßenbrücken<br />

entworfen, alle nicht mehr als 60 Meter lang.<br />

»Man fängt klein an«, sagt Schönherr. Und doch<br />

ist es auch hier nicht anders als bei den Großen:<br />

Ein Anfangs- und ein Endpunkt müssen so wirt-<br />

SPEZIAL: INGENIEURE UND TECHNIKER<br />

schaftlich wie möglich miteinander verbunden<br />

werden. Was dazwischen liegt, soll gut aussehen,<br />

in die Landschaft passen – und halten. Drei Monate<br />

vergehen von der ersten Idee bis zur Berechnung,<br />

diese schafft der Bauingenieur dann in vier<br />

Wochen. Steht die Brücke schließlich, erlebt<br />

Schönherr immer wieder einen Aha-Effekt und ist<br />

von dem, was aus seiner Zeichnung wurde, begeistert:<br />

»Eine Brücke ist wie ein eigenes Baby«,<br />

sagt er – und das wird, wenn alles glatt geht, mindestens<br />

100 Jahre alt.<br />

»Ein Drittel ist grauenvoll«<br />

Ein 50 Jahre alter Ingenieur sagt, wie es ist, heute noch einmal zu studieren<br />

<strong>DIE</strong> <strong>ZEIT</strong>: Sie sind 50 Jahre alt, Diplom-Ingenieur<br />

und Vater von drei Kindern. Warum machen Sie<br />

jetzt noch einen Master of Engineering?<br />

Stephan Fischer: Ich wollte in der Mitte des Arbeitslebens<br />

noch mal neuen Input bekommen und<br />

mein Wissen auffrischen. Mittlerweile studiere ich<br />

seit anderthalb Jahren, das heißt im vierten und<br />

letzten Semester, und habe viel Spaß an den Fächern,<br />

die ich in meinem ersten Studium nicht<br />

gemacht habe. Manche gab es damals noch gar<br />

nicht, zum Beispiel Baumanagement. Das hat sich<br />

in den letzten Jahren sehr entwickelt. Auch Brandschutz<br />

gehört dazu.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Sie haben ein Ingenieurbüro. Wie schaffen<br />

Sie das Studium nebenher?<br />

Fischer: Ich betreibe mein Büro nicht in Vollzeit<br />

und stimme die Termine mit den Vorlesungen<br />

ab. Als die Kinder noch klein waren, habe ich<br />

einen Deal mit meiner Frau gemacht, der beinhaltete,<br />

dass sie als Lehrerin voll in den Beruf<br />

einstieg. Mittlerweile sind unsere Kinder aber<br />

groß. Ich kann mich jetzt also auf den Master<br />

konzentrieren.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wie unterscheidet sich das heutige Ingenieursstudium<br />

vom damaligen?<br />

Fischer: Früher wurde zwar mehr Praxis vermittelt,<br />

es war aber noch verschulter. Man musste<br />

einfach einen Katalog an Vorlesungen abarbeiten,<br />

Scheine holen, Haken dran. Was früher Vorlesung<br />

hieß, heißt heute Modul. Im Master können<br />

wir jetzt je nach Interesse aus etwa 25 Modulen<br />

wählen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Finden Sie, das Masterstudium bereitet die<br />

Studenten genügend auf den Arbeitsalltag vor?<br />

Fischer: Zum Teil. Ein Drittel der Dozenten<br />

macht mit den Studenten Projekte, in denen sie<br />

mit realistischen Problemen konfrontiert werden.<br />

Ein weiteres Drittel der Dozenten macht ganz ordentliche<br />

Arbeit. Und bei einem Drittel ist es<br />

grauenvoll. An denen sind Pädagogik und Didaktik<br />

vorbeigegangen. Die geben einem die Formeln,<br />

und in der Klausur muss man dann nur Zahlen<br />

einsetzen und runterrechnen. In der Praxis aber<br />

kommt der Kunde mit einem statischen oder baurechtlichen<br />

Problem, und ich muss eine Lösung<br />

dafür finden. Darauf sollten die Studenten vorbereitet<br />

werden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Viele behaupten, der Dipl.-Ing. sei der bessere<br />

Abschluss gewesen. Wie sehen Sie das?<br />

Fischer: Als ich anfing, erneut zu studieren, dachte<br />

ich, mein Diplomstudium würde mir anerkannt<br />

werden. Es hieß ja, der Bachelor sei weniger wert<br />

als ein Fachhochschuldiplom. Stattdessen sagte<br />

man mir bei der Anmeldung für den Master, ich<br />

könne froh sein, dass ich nicht noch ein paar<br />

Credits nachholen müsse. Denn das In ge nieurstu<br />

dium ging bei mir damals offiziell nur über<br />

fünfeinhalb Semester, der Bachelor aber hat sechs<br />

Semester. Trotzdem denke ich, dass der Bachelor<br />

allein nicht erstrebenswert ist. Er ist sehr verschult.<br />

Man sollte immer noch den Master machen,<br />

dadurch kommt man auf eine ganz andere<br />

Wissensebene.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Wissen Sie schon, was Sie nach dem Studium<br />

machen?<br />

Fischer: Ich bin jetzt seit 15 Jahren selbstständig<br />

und habe noch mal etwa 15 Jahre Berufsleben vor<br />

mir. Ich kann mir vorstellen, nach dem Studium<br />

noch einmal bei einer Firma anzufangen. Vielleicht<br />

werde ich aber auch Lehrer für Mathe und<br />

Physik. Das geht in Hessen als Quereinsteiger. Es<br />

gefällt mir, jungen Menschen etwas beizubringen.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Bringen Sie Ihren jungen Kommilitonen<br />

auch manchmal etwas bei?<br />

Fischer: Es ist schon so, dass ich immer mal Mails<br />

von Kommilitonen bekomme, die mich fragen, ob<br />

ich über eine Rechnung schauen kann oder was<br />

ich zu einer Lösung sage. Ich antworte gerne, denn<br />

wenn ich etwas erklären kann, heißt das, ich habe<br />

es verstanden.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Widersprechen Sie den Dozenten auch mal?<br />

Fischer: Gelegentlich schon. Einmal hat der Professor<br />

eine Aufgabe zum Thema Bauablaufstörung<br />

ausgeteilt. Die Informationen waren unvollständig,<br />

auf dieser Basis hätte man als Ingenieur nicht<br />

anfangen können zu arbeiten. Das habe ich dann<br />

auch gesagt.<br />

<strong>ZEIT</strong>: Und gehen Sie mit Ihren Kommilitonen<br />

auf Studentenpartys?<br />

Fischer: Auf einer großen Party war ich noch<br />

nicht, aber wir waren mal zusammen in der Kneipe,<br />

um das Semester nach den letzten Klausuren<br />

gemeinsam ausklingen zu lassen. Am Anfang war<br />

das für meine Kommilitonen, glaube ich, ein bisschen<br />

komisch: so ein alter Typ, der da rumsitzt.<br />

Vom Alter her könnten sie meine Kinder sein, zuerst<br />

haben sie mich gesiezt. Jetzt ist das ein ganz<br />

natürlicher Umgang miteinander. Ich frage sie<br />

auch manchmal nach den Unterlagen, wenn ich<br />

mal nicht da sein konnte. Ich bin einer von denen<br />

geworden.<br />

Stephan Fischer, 50, studiert Konstruktiver<br />

Ingenieurbau/Baumanagement an<br />

der Hochschule RheinMain in Wiesbaden<br />

Interview: ANIKA KRELLER<br />

CHANCEN

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