Nietzsche, Friedrich - Di...
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300.<br />
Vorspiele der Wissenschaft. − Glaubt ihr denn, dass die Wissenschaften entstanden und<br />
gross geworden wären, wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchymisten, Astrologen und<br />
Hexen vorangelaufen wären als <strong>Di</strong>e, welche mit ihren Verheissungen und Vorspiegelungen<br />
erst Durst, Hunger und Wohlgeschmack an verborgenen und verbotenen Mächten schaffen<br />
mussten? Ja, dass unendlich mehr hat verheissen werden müssen, als je erfüllt werden<br />
kann, damit überhaupt Etwas im Reiche der Erkenntniss sich erfülle? − Vielleicht erscheint<br />
in gleicher Weise, wie uns sich hier Vorspiele und Vorübungen der Wissenschaft<br />
darstellen, die durchaus nicht als solche geübt und empfunden wurden, auch irgend einem<br />
fernen Zeitalter die gesammte Religion als Uebung und Vorspiel: vielleicht könnte sie das<br />
seltsame Mittel dazu gewesen sein, dass einmal einzelne Menschen die ganze<br />
Selbstgenügsamkeit eines Gottes und alle seine Kraft der Selbsterlösung geniessen können:<br />
ja! − darf man fragen − würde denn der Mensch überhaupt ohne jene religiöse Schule und<br />
Vorgeschichte es gelernt haben, nach sich Hunger und Durst zu spüren und aus sich<br />
Sattheit und Fülle zu nehmen? Musste Prometheus erst wähnen, das Licht gestohlen zu<br />
haben und dafür büssen, − um endlich zu entdecken, dass er das Licht geschaffen habe,<br />
indem er nach dem Lichte begehrte, und dass nicht nur der Mensch, sondern auch der Gott<br />
das Werk seiner Hände und Thon in seinen Händen gewesen sei? Alles nur Bilder des<br />
Bildners? − ebenso wie der Wahn, der <strong>Di</strong>ebstahl, der Kaukasus, der Geier und die ganze<br />
tragische Prometheia aller Erkennenden?<br />
301.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Wahn der Contemplativen. − <strong>Di</strong>e hohen Menschen unterscheiden sich von den niederen<br />
dadurch, dass sie unsäglich mehr sehen und hören und denkend sehen und hören − und<br />
eben diess unterscheidet den Menschen vom Thiere und die oberen Thiere von den<br />
unteren. <strong>Di</strong>e Welt wird für Den immer voller, welcher in die Höhe der Menschlichkeit<br />
hinauf wächst; es werden immer mehr Angelhaken des Interesses nach ihm ausgeworfen;<br />
die Menge seiner Reize ist beständig im Wachsen und ebenso die Menge seiner Arten von<br />
Lust und Unlust, − der höhere Mensch wird immer zugleich glücklicher und unglücklicher.<br />
Dabei aber bleibt ein Wahn sein beständiger Begleiter: er meint, als Zuschauer und<br />
Zuhörer vor das grosse Schau− und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben ist: er<br />
nennt seine Natur eine contemplative und übersieht dabei, dass er selber auch der<br />
eigentliche <strong>Di</strong>chter und Fortdichter des Lebens ist, − dass er sich freilich vom Schauspieler<br />
dieses Drama's, dem sogenannten handelnden Menschen, sehr unterscheidet, aber noch<br />
mehr von einem blossen Betrachter und Festgaste vor der Bühne. Ihm, als dem <strong>Di</strong>chter, ist<br />
gewiss vis contemplativa und der Rückblick auf sein Werk zu eigen, aber zugleich und<br />
vorerst die vis creativa, welche dem handelnden Menschen fehlt, was auch der<br />
Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag. Wir, die Denkend−Empfindenden, sind<br />
es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig<br />
wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern,<br />
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