Nietzsche, Friedrich - Di...
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<strong>Di</strong>e Rache am Geist und andere Hintergründe der Moral. − <strong>Di</strong>e Moral − wo glaubt ihr<br />
wohl, dass sie ihre gefährlichsten und tückischsten Anwälte hat?... Da ist ein missrathener<br />
Mensch, der nicht genug Geist besitzt, um sich dessen freuen zu können, und gerade<br />
Bildung genug, um das zu wissen; gelangweilt, überdrüssig, ein Selbstverächter; durch<br />
etwas ererbtes Vermögen leider noch um den letzten Trost betrogen, den "Segen der<br />
Arbeit", die Selbstvergessenheit im "Tagewerk"; ein Solcher, der sich seines Daseins im<br />
Grunde schämt − vielleicht herbergt er dazu ein paar kleine Laster − und andrerseits nicht<br />
umhin kann, durch Bücher, auf die er kein Recht hat, oder geistigere Gesellschaft als er<br />
verdauen kann, sich immer schlimmer zu verwöhnen und eitel−reizbar zu machen: ein<br />
solcher durch und durch vergifteter Mensch − denn Geist wird Gift, Bildung wird Gift,<br />
Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift bei dergestalt Missrathenen − geräth schliesslich in<br />
einen habituellen Zustand der Rache, des Willens zur Rache... was glaubt ihr wohl, dass er<br />
nöthig, unbedingt nöthig hat, um sich bei sich selbst den Anschein von Ueberlegenheit<br />
über geistigere Menschen, um sich die Lust der vollzogenen Rache, wenigstens für seine<br />
Einbildung, zu schaffen? Immer die Moralität, darauf darf man wetten, immer die grossen<br />
Moral−Worte, immer das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend,<br />
immer den Stoicismus der Gebärde (− wie gut versteckt der Stoicismus was Einer nicht<br />
hat!..), immer den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der Milde, und wie<br />
alle die Idealisten−Mäntel heissen, unter denen die unheilbaren Selbstverächter, auch die<br />
unheilbar Eiteln, herum gehn. Man verstehe mich nicht falsch: aus solchen geborenen<br />
Feinden des Geistes entsteht mitunter jenes seltene Stück Menschthum, das vom Volke<br />
unter dem Namen des Heiligen, des Weisen verehrt wird; aus solchen Menschen kommen<br />
jene Unthiere der Moral her, welche Lärm machen, Geschichte machen, − der heilige<br />
Augustin gehört zu ihnen. <strong>Di</strong>e Furcht vor dem Geist, die Rache am Geist − oh wie oft<br />
wurden diese triebkräftigen Laster schon zur Wurzel von Tugenden! ja zur Tugend! − Und,<br />
unter uns gefragt, selbst jener Philosophen−Anspruch auf Weisheit, der hier und da einmal<br />
auf Erden gemacht worden ist, der tollste und unbescheidenste aller Ansprüche, − war er<br />
nicht immer bisher, in Indien, wie in Griechenland, vor Allem ein Versteck? Mitunter<br />
vielleicht im Gesichtspunkte der Erziehung, der so viele Lügen heiligt, als zarte Rücksicht<br />
auf Werdende, Wachsende, auf Jünger, welche oft durch den Glauben an die Person (durch<br />
einen Irrthum) gegen sich selbst vertheidigt werden müssen... In den häufigeren Fällen aber<br />
ein Versteck des Philosophen, hinter welches er sich aus Ermüdung, Alter, Erkaltung,<br />
Verhärtung rettet, als Gefühl vom nahen Ende, als Klugheit jenes Instinkts, den die Thiere<br />
vor dem Tode haben, − sie gehen bei Seite, werden still, wählen die Einsamkeit,<br />
verkriechen sich in Höhlen, werden weise... Wie? Weisheit ein Versteck des Philosophen<br />
vor − dem Geiste? −<br />
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<strong>Nietzsche</strong><br />
Zwei Arten Ursache, die man verwechselt. − Das erscheint mir als einer meiner<br />
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