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Nietzsche, Friedrich - Di...

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<strong>Nietzsche</strong><br />

sich fassen lassen, lassen sich von Fröschen und Schwächlingen nicht halten, das ist ihr<br />

Geschmack seit Ewigkeit, − ein Geschmack übrigens, den sie mit allen wackern Weiblein<br />

theilen. − Wie kommt es nun, dass ich noch Niemandem begegnet bin, auch in Büchern<br />

nicht, der zur Moral in dieser Stellung als Person stünde, der die Moral als Problem und<br />

dies Problem als seine persönliche Noth, Qual, Wollust, Leidenschaft kennte? Ersichtlich<br />

war bisher die Moral gar kein Problem; vielmehr Das gerade, worin man, nach allem<br />

Misstrauen, Zwiespalt, Widerspruch, mit einander überein kam, der geheiligte Ort des<br />

Friedens, wo die Denker auch von sich selbst ausruhten, aufathmeten, auflebten. Ich sehe<br />

Niemanden, der eine Kritik der moralischen Werthurtheile gewagt hätte; ich vermisse<br />

hierfür selbst die Versuche der wissenschaftlichen Neugierde, der verwöhnten<br />

versucherischen Psychologen− und Historiker−Einbildungskraft, welche leicht ein Problem<br />

vorwegnimmt und im Fluge erhascht, ohne recht zu wissen, was da erhascht ist. Kaum dass<br />

ich einige spärliche Ansätze ausfindig gemacht habe, es zu einer Entstehungsgeschichte<br />

dieser Gefühle und Werthschätzungen zu bringen (was etwas Anderes ist als eine Kritik<br />

derselben und noch einmal etwas Anderes als die Geschichte der ethischen Systeme): in<br />

einem einzelnen Falle habe ich Alles gethan, um eine Neigung und Begabung für diese Art<br />

Historie zu ermuthigen − umsonst, wie mir heute scheinen will. Mit diesen<br />

Moral−Historikern (namentlich Engländern) hat es wenig auf sich: sie stehen gewöhnlich<br />

selbst noch arglos unter dem Kommando einer bestimmten Moral und geben, ohne es zu<br />

wissen, deren Schildträger und Gefolge ab; etwa mit jenem noch immer so treuherzig<br />

nachgeredeten Volks−Aberglauben des christlichen Europa, dass das Charakteristicum der<br />

moralischen Handlung im Selbstlosen, Selbstverleugnenden, Sich−Selbst−Opfernden, oder<br />

im Mitgefühle, im Mitleiden belegen sei. Ihr gewöhnlicher Fehler in der Voraussetzung ist,<br />

dass sie irgend einen consensus der Völker, mindestens der zahmen Völker über gewisse<br />

Sätze der Moral behaupten und daraus deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für dich und<br />

mich, schliessen; oder dass sie umgekehrt, nachdem ihnen die Wahrheit aufgegangen ist,<br />

dass bei verschiedenen Völkern die moralischen Schätzungen nothwendig verschieden<br />

sind, einen Schluss auf Unverbindlichkeit aller Moral machen: was Beides gleich grosse<br />

Kindereien sind. Der Fehler der Feineren unter ihnen ist, dass sie die vielleicht thörichten<br />

Meinungen eines Volkes über seine Moral oder der Menschen über alle menschliche Moral<br />

aufdecken und kritisiren, also über deren Herkunft, religiöse Sanktion, den Aberglauben<br />

des freien Willens und dergleichen, und ebendamit vermeinen, diese Moral selbst kritisirt<br />

zu haben. Aber der Werth einer Vorschrift "du sollst" ist noch gründlich verschieden und<br />

unabhängig von solcherlei Meinungen über dieselbe und von dem Unkraut des Irrthums,<br />

mit dem sie vielleicht überwachsen ist: so gewiss der Werth eines Medikaments für den<br />

Kranken noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke wissenschaftlich oder wie<br />

ein altes Weib über Medizin denkt. Eine Moral könnte selbst aus einem Irrthum gewachsen<br />

sein: auch mit dieser Einsicht wäre das Problem ihres Werthes noch nicht einmal berührt. −<br />

Niemand also hat bisher den Werth jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral,<br />

geprüft: wozu zuallererst gehört, dass man ihn einmal − in Frage stellt. Wohlan! <strong>Di</strong>es eben<br />

ist unser Werk. −<br />

345. 148

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