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Nietzsche, Friedrich - Di...

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Zweites Buch<br />

57.<br />

An die Realisten. − Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und<br />

Phantasterei gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierath aus eurer Leere<br />

machen möchtet, ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine,<br />

so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, und ihr<br />

selber wäret vielleicht der beste Theil davon, − oh ihr geliebten Bilder von Sais! Aber seid<br />

nicht auch ihr in eurem entschleiertsten Zustande noch höchst leidenschaftliche und dunkle<br />

Wesen, verglichen mit den Fischen, und immer noch einem verliebten Künstler allzu<br />

ähnlich? − und was ist für einen verliebten Künstler "Wirklichkeit"! Immer noch tragt ihr<br />

die Schätzungen der <strong>Di</strong>nge mit euch herum, welche in den Leidenschaften und<br />

Verliebtheiten früherer Jahrhunderte ihren Ursprung haben! Immer noch ist eurer<br />

Nüchternheit eine geheime und unvertilgbare Trunkenheit einverleibt! Eure Liebe zur<br />

"Wirklichkeit" zum Beispiel − oh das ist eine alte uralte "Liebe"! In jeder Empfindung, in<br />

jedem Sinneseindruck ist ein Stück dieser alten Liebe: und ebenso hat irgend eine<br />

Phantasterei, ein Vorurtheil, eine Unvernunft, eine Unwissenheit, eine Furcht und was<br />

sonst noch Alles! daran gearbeitet und gewebt. Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist<br />

denn daran "wirklich"? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zuthat<br />

davon ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet! Wenn ihr eure Herkunft,<br />

Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet, − eure gesammte Menschheit und Thierheit!<br />

Es giebt für uns keine "Wirklichkeit" − und auch für euch nicht, ihr Nüchternen −, wir sind<br />

einander lange nicht so fremd, als ihr meint, und vielleicht ist unser guter Wille, über die<br />

Trunkenheit hinauszukommen, ebenso achtbar als euer Glaube, der Trunkenheit überhaupt<br />

unfähig zu sein.<br />

58.<br />

<strong>Nietzsche</strong><br />

Nur als Schaffende! − <strong>Di</strong>ess hat mir die grösste Mühe gemacht und macht mir noch<br />

immerfort die grösste Mühe: einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt, wie die <strong>Di</strong>nge<br />

heissen, als was sie sind. Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maass<br />

und Gewicht eines <strong>Di</strong>nges − im Ursprunge zuallermeist ein Irrthum und eine<br />

Willkürlichkeit, den <strong>Di</strong>ngen übergeworfen wie ein Kleid und seinem Wesen und selbst<br />

seiner Haut ganz fremd − ist durch den Glauben daran und sein Fortwachsen von<br />

Geschlecht zu Geschlecht dem <strong>Di</strong>nge allmählich gleichsam an− und eingewachsen und zu<br />

seinem Leibe selber geworden: der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum<br />

Wesen und wirkt als Wesen! Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge, auf<br />

diesen Ursprung und diese Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft<br />

geltende Welt, die sogenannte "Wirklichkeit", zu vernichten! Nur als Schaffende können<br />

wir vernichten! − Aber vergessen wir auch diess nicht: es genügt, neue Namen und<br />

Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue "<strong>Di</strong>nge" zu<br />

Zweites Buch 51

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