Nietzsche, Friedrich - Di...
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"gewusst", was sie gethan hat...<br />
370.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Was ist Romantik? − Man erinnert sich vielleicht, zum Mindesten unter meinen Freunden,<br />
dass ich Anfangs mit einigen dicken Irrthümern und Ueberschätzungen und jedenfalls als<br />
Hoffender auf diese moderne Weit losgegangen bin. Ich verstand − wer weiss, auf welche<br />
persönlichen Erfahrungen hin? − den philosophischen Pessimismus des neunzehnten<br />
Jahrhunderts, wie als ob er das Symptom von höherer Kraft des Gedankens, von<br />
verwegenerer Tapferkeit, von siegreicherer Fülle des Lebens sei, als diese dem achtzehnten<br />
Jahrhundert, dem Zeitalter Hume's, Kant's, Condillac's und der Sensualisten, zu eigen<br />
gewesen sind: so dass mir die tragische Erkenntniss wie der eigentliche Luxus unsrer<br />
Cultur erschien, als deren kostbarste, vornehmste, gefährlichste Art Verschwendung, aber<br />
immerhin, auf Grund ihres Ueberreichthums, als ihr erlaubter Luxus. Insgleichen deutete<br />
ich mir die deutsche Musik zurecht zum Ausdruck einer dionysischen Mächtigkeit der<br />
deutschen Seele: in ihr glaubte ich das Erdbeben zu hören, mit dem eine von Alters her<br />
aufgestaute Urkraft sich endlich Luft macht − gleichgültig dagegen, ob Alles, was sonst<br />
Cultur heisst, dabei in's Zittern geräth. Man sieht, ich verkannte damals, sowohl am<br />
philosophischen Pessimismus, wie an der deutschen Musik, das was ihren eigentlichen<br />
Charakter ausmacht − ihre Romantik. Was ist Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf<br />
als Heil− und Hülfsmittel im <strong>Di</strong>enste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehn<br />
werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. − Aber es giebt zweierlei Leidende,<br />
einmal die an der Ueberfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen<br />
und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, − und sodann die an der<br />
Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch<br />
die Kunst und Erkenntniss suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den<br />
Wahnsinn. Dem Doppel−Bedürfnisse der Letzteren entspricht alle Romantik in Künsten<br />
und Erkenntnissen, ihnen entsprach (und entspricht) ebenso Schopenhauer als Richard<br />
Wagner, um jene berühmtesten und ausdrücklichsten Romantiker zu nennen, welche<br />
damals von mir missverstanden wurden − übrigens nicht zu ihrem Nachtheile, wie man mir<br />
in aller Billigkeit zugestehn darf. Der Reichste an Lebensfülle, der dionysische Gott und<br />
Mensch, kann sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen gönnen,<br />
sondern selbst die fürchterliche That und jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung,<br />
Verneinung; bei ihm erscheint das Böse, Unsinnige und Hässliche gleichsam erlaubt, in<br />
Folge eines Ueberschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften, welcher aus jeder<br />
Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen im Stande ist. Umgekehrt würde der<br />
Leidendste, Lebensärmste am meisten die Milde, Friedlichkeit, Güte nöthig haben, im<br />
Denken und im Handeln, womöglich einen Gott, der ganz eigentlich ein Gott für Kranke,<br />
ein "Heiland" wäre; ebenso auch die Logik, die begriffliche Verständlichkeit des Daseins −<br />
denn die Logik beruhigt, giebt Vertrauen −, kurz eine gewisse warme furchtabwehrende<br />
Enge und Einschliessung in optimistische Horizonte. Dergestalt lernte ich allmählich<br />
Epikur begreifen, den Gegensatz eines dionysischen Pessimisten, ebenfalls den "Christen",<br />
370. 172