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Nietzsche, Friedrich - Di...

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welcher Höhe erst die Schönheit ihren Zauber selbst über Deutsche ausgiesst, treibt die<br />

deutschen Künstler in die Höhe und Ueberhöhe und in die Ausschweifungen der<br />

Leidenschaft: ein wirkliches tiefes Verlangen also, über die Hässlichkeit und<br />

Ungeschicktheit hinauszukommen, mindestens hinauszublicken − hin nach einer besseren,<br />

leichteren, südlicheren, sonnenhafteren Welt. Und so sind ihre Krämpfe oftmals nur<br />

Anzeichen dafür, dass sie tanzen möchten: diese armen Bären, in denen versteckte<br />

Nymphen und Waldgötter ihr Wesen treiben − und mitunter noch höhere Gottheiten!<br />

106.<br />

Musik als Fürsprecherin. − "Ich habe Durst nach einem Meister der Tonkunst, sagte ein<br />

Neuerer zu seinem Jünger, dass er mir meine Gedanken ablerne und sie fürderhin in seiner<br />

Sprache rede: so werde ich den Menschen besser zu Ohr und Herzen dringen. Mit Tönen<br />

kann man die Menschen zu jedem Irrthume und jeder Wahrheit verführen: wer vermöchte<br />

einen Ton zu widerlegen?" − "Also möchtest du für unwiderlegbar gelten?" sagte sein<br />

Jünger. Der Neuerer erwiderte. "Ich möchte, dass der Keim zum Baume werde. Damit eine<br />

Lehre zum Baume werde, muss sie eine gute Zeit geglaubt werden: damit sie geglaubt<br />

werde, muss sie für unwiderlegbar gelten. Dem Baume thun Stürme, Zweifel, Gewürm,<br />

Bosheit noth, damit er die Art und Kraft seines Keimes offenbar mache; mag er brechen,<br />

wenn er nicht stark genug ist! Aber ein Keim wird immer nur vernichtet, − nicht<br />

widerlegt!" − Als er das gesagt hatte, rief sein Jünger mit Ungestüm: "Aber ich glaube an<br />

deine Sache und halte sie für so stark, dass ich Alles, Alles sagen werde, was ich noch<br />

gegen sie auf dem Herzen habe". − Der Neuerer lachte bei sich und drohte ihm mit dem<br />

Finger. "<strong>Di</strong>ese Art Jüngerschaft, sagte er dann, ist die beste, aber sie ist gefährlich und<br />

nicht jede Art Lehre verträgt sie".<br />

107.<br />

<strong>Nietzsche</strong><br />

Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst. − Hätten wir nicht die Künste gut geheissen<br />

und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine<br />

Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird − die<br />

Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und<br />

empfindenden Daseins −, gar nicht auszuhalten. <strong>Di</strong>e Redlichkeit würde den Ekel und den<br />

Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns<br />

solchen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine. Wir<br />

verwehren es unserm Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu dichten: und dann ist es<br />

nicht mehr die ewige Unvollkommenheit, die wir über den Fluss des Werdens tragen −<br />

dann meinen wir, eine Göttin zu tragen und sind stolz und kindlich in dieser<br />

<strong>Di</strong>enstleistung. Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und<br />

durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben,<br />

aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können. Wir müssen zeitweilig von uns<br />

ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen<br />

Ferne her, über uns lachen oder über uns weinen; wir müssen den Helden und ebenso den<br />

106. 76

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