Nietzsche, Friedrich - Di...
Nietzsche, Friedrich - Di...
Nietzsche, Friedrich - Di...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Anspielung auf das Gegenwärtige hinzu, man strich vor Allem den Namen des <strong>Di</strong>chters<br />
hinweg und setzte den eigenen an seine Stelle − nicht im Gefühl des <strong>Di</strong>ebstahls, sondern<br />
mit dem allerbesten Gewissen des imperium Romanum.<br />
84.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Vom Ursprunge der Poesie. − <strong>Di</strong>e Liebhaber des Phantastischen am Menschen, welche<br />
zugleich die Lehre von der instinctiven Moralität vertreten, schliessen so: "gesetzt, man<br />
habe zu allen Zeiten den Nutzen als die höchste Gottheit verehrt, woher dann in aller Welt<br />
ist die Poesie gekommen? − diese Rhythmisirung der Rede, welche der Deutlichkeit der<br />
Mittheilung eher entgegenwirkt, als förderlich ist, und die trotzdem wie ein Hohn auf alle<br />
nützliche Zweckmässigkeit überall auf Erden aufgeschossen ist und noch aufschiesst! <strong>Di</strong>e<br />
wildschöne Unvernünftigkeit der Poesie widerlegt euch, ihr Utilitarier! Gerade vom<br />
Nutzen einmal loskommen wollen − das hat den Menschen erhoben, das hat ihn zur<br />
Moralität und Kunst inspirirt!" Nun ich muss hierin einmal den Utilitariern zu Gefallen<br />
reden, − sie haben ja so selten Recht, dass es zum Erbarmen ist! Man hatte in jenen alten<br />
Zeiten, welche die Poesie in's Dasein riefen, doch die Nützlichkeit dabei im Auge und eine<br />
sehr grosse Nützlichkeit − damals als man den Rhythmus in die Rede dringen liess, jene<br />
Gewalt die alle Atome des Satzes neu ordnet, die Worte wählen heisst und den Gedanken<br />
neu färbt und dunkler, fremder, ferner macht: freilich eine abergläubische Nützlichkeit! Es<br />
sollte vermöge des Rhythmus den Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt<br />
werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im Gedächtniss<br />
behält, als eine ungebundene Rede; ebenfalls meinte man durch das rhythmische Tiktak<br />
über grössere Fernen hin sich hörbar zu machen; das rhythmisirte Gebet schien den Göttern<br />
näher an's Ohr zu kommen. Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren<br />
Ueberwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt: der<br />
Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit<br />
einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach,<br />
− wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! Man versuchte sie also durch<br />
den Rhythmus zu zwingen und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie<br />
wie eine magische Schlinge um. Es gab noch eine wunderlichere Vorstellung: und diese<br />
gerade hat vielleicht am mächtigsten zur Entstehung der Poesie gewirkt. Bei den<br />
Phythagoreern erscheint sie als philosophische Lehre und als Kunstgriff der Erziehung:<br />
aber längst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu, die Affecte zu<br />
entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern − und zwar gerade durch das<br />
Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren<br />
gegangen war, musste man tanzen, in dem Tacte des Sängers, − das war das Recept dieser<br />
Heilkunst. Mit ihr stillte Terpander einen Aufruhr, besänftigte Empedokles einen<br />
Rasenden, reinigte Damon einen liebessiechen Jüngling; mit ihr nahm man auch die<br />
wildgewordenen rachsüchtigen Götter in Cur. Zuerst dadurch, dass man den Taumel und<br />
die Ausgelassenheit ihrer Affecte auf's Höchste trieb, also den Rasenden toll, den<br />
Rachsüchtigen rachetrunken machte: − alle orgiastischen Culte wollen die ferocia einer<br />
84. 62