Nietzsche, Friedrich - Di...
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wir würden uns selbst nicht genug in Ehren halten, wenn wir's anders wünschten. Man<br />
verwechselt uns − das macht, wir selbst wachsen, wir wechseln fortwährend, wir stossen<br />
alte Rinden ab, wir häuten uns mit jedem Frühjahre noch, wir werden immer Jünger,<br />
zukünftiger, höher, stärker, wir treiben unsre Wurzeln immer mächtiger in die Tiefe − in's<br />
Böse −, während wir zugleich den Himmel immer liebevoller, immer breiter umarmen und<br />
sein Licht immer durstiger mit allen unsren Zweigen und Blättern in uns hineinsaugen. Wir<br />
wachsen wie Bäume − das ist schwer zu verstehn, wie alles Leben! − nicht an Einer Stelle,<br />
sondern überall, nicht in Einer Richtung, sondern ebenso hinauf, hinaus wie hinein und<br />
hinunter, − unsre Kraft treibt zugleich in Stamm, Aesten und Wurzeln, es steht uns gar<br />
nicht mehr frei, irgend Etwas einzeln zu thun, irgend etwas Einzelnes noch zu sein... So ist<br />
es unser Loos, wie gesagt: wir wachsen in die Höhe; und gesetzt, es wäre selbst unser<br />
Verhängniss − denn wir wohnen den Blitzen immer näher! − wohlan, wir halten es darum<br />
nicht weniger in Ehren, es bleibt Das, was wir nicht theilen, nicht mittheilen wollen, das<br />
Verhängniss der Höhe, unser Verhängniss...<br />
372.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Warum wir keine Idealisten sind. − Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen<br />
− haben wir − diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir sind heute allesammt<br />
Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie, nicht der Theorie<br />
nach, aber der Praxis, der Praktik... Jene hingegen meinten, durch die Sinne aus ihrer Welt,<br />
dem kalten Reiche der "Ideen", auf ein gefährliches südlicheres Eiland weggelockt zu<br />
werden: woselbst, wie sie fürchteten, ihre Philosophen−Tugenden wie Schnee in der Sonne<br />
wegschmelzen würden. "Wachs in den Ohren" war damals beinahe Bedingung des<br />
Philosophirens; ein ächter Philosoph hörte das Leben nicht mehr, insofern Leben Musik ist,<br />
er leugnete die Musik des Lebens, − es ist ein alter Philosophen−Aberglaube, dass alle<br />
Musik Sirenen−Musik ist. − Nun möchten wir heute geneigt sein, gerade umgekehrt zu<br />
urtheilen (was an sich noch eben so falsch sein könnte): nämlich dass die Ideen schlimmere<br />
Verführerinnen seien als die Sinne, mit allem ihrem kalten anämischen Anscheine und<br />
nicht einmal trotz diesem Anscheine, − sie lebten immer vom "Blute" des Philosophen, sie<br />
zehrten immer seine Sinne aus, ja, wenn man uns glauben will, auch sein "Herz". <strong>Di</strong>ese<br />
alten Philosophen waren herzlos: Philosophiren war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt<br />
ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinoza's, etwas tief Änigmatisches und<br />
Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige<br />
Blässer−werden −, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht im<br />
Hintergrunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren<br />
Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält, übrig lässt? − ich meine<br />
Kategorien, Formeln, Worte (denn, man vergebe mir, das was von Spinoza übrigblieb,<br />
amor intellectualis dei, ist ein Geklapper, nichts mehr! was ist amor, was deus, wenn ihnen<br />
jeder Tropfen Blut fehlt?...) In summa: aller philosophische Idealismus war bisher Etwas<br />
wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Plato's, die Vorsicht einer überreichen und<br />
gefährlichen Gesundheit, die Furcht vor übermächtigen Sinnen, die Klugheit eines klugen<br />
372. 174