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Nietzsche, Friedrich - Di...

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306.<br />

Stoiker und Epikureer. − Der Epikureer sucht sich die Lage, die Personen und selbst die<br />

Ereignisse aus, welche zu seiner äusserst reizbaren intellectuellen Beschaffenheit passen,<br />

er verzichtet auf das Uebrige − das heisst das Allermeiste −, weil es eine zu starke und<br />

schwere Kost für ihn sein würde. Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm,<br />

Glassplitter und Skorpionen zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; sein Magen soll<br />

endlich gleichgültig gegen Alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet: − er<br />

erinnert an jene arabische Secte der Assaua, die man in Algier kennen lernt; und gleich<br />

diesen Unempfindlichen hat auch er gerne ein eingeladenes Publicum bei der<br />

Schaustellung seiner Unempfindlichkeit, dessen gerade der Epikureer gerne enträth: − der<br />

hat ja seinen "Garten!" Für Menschen, mit denen das Schicksal improvisirt, für solche, die<br />

in gewaltsamen Zeiten und abhängig von plötzlichen und veränderlichen Menschen leben,<br />

mag der Stoicismus sehr rathsam sein. Wer aber einigermaassen absieht, dass das<br />

Schicksal ihm einen langen Faden zu spinnen erlaubt, thut wohl, sich epikureisch<br />

einzurichten; alle Menschen der geistigen Arbeit haben es bisher gethan! Ihnen wäre es<br />

nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüssen und die stoische harte<br />

Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu bekommen.<br />

307.<br />

Zu Gunsten der Kritik. − Jetzt erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine<br />

Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stösst es von dir ab und wähnst, dass<br />

deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrthum damals,<br />

als du noch ein Anderer warst − du bist immer ein Anderer −, dir ebenso nothwendig wie<br />

alle deine jetzigen "Wahrheiten", gleichsam als eine Haut, die dir Vieles verhehlte und<br />

verhüllte, was du noch nicht sehen durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich<br />

getödtet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst<br />

zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an's Licht. Wenn wir<br />

Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, − es ist, wenigstens sehr oft,<br />

ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde<br />

abstossen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen<br />

will, Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! − <strong>Di</strong>ess zu Gunsten der<br />

Kritik.<br />

308.<br />

<strong>Nietzsche</strong><br />

<strong>Di</strong>e Geschichte jedes Tages. − Was macht bei dir die Geschichte jedes Tages? Siehe deine<br />

Gewohnheiten an, aus denen sie besteht: sind sie das Erzeugniss zahlloser kleiner<br />

Feigheiten und Faulheiten oder das deiner Tapferkeit und erfinderischen Vernunft? So<br />

verschieden beide Fälle sind, es wäre möglich, dass die Menschen dir das gleiche Lob<br />

spendeten und dass du ihnen auch wirklich so wie so den gleichen Nutzen brächtest. Aber<br />

Lob und Nutzen und Respectabilität mögen genug für Den sein, der nur ein gutes Gewissen<br />

306. 128

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