Nietzsche, Friedrich - Di...
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Genies fangen an zu fehlen: − wer wagt es nunmehr noch, Werke zu unternehmen, zu<br />
deren Vollendung man auf Jahrtausende rechnen müsste? Es stirbt eben jener Grundglaube<br />
aus, auf welchen hin Einer dergestalt rechnen, versprechen, die Zukunft im Plane<br />
vorwegnehmen, seinem Plane zum Opfer bringen kann, dass nämlich der Mensch nur<br />
insofern Werth hat, Sinn hat, als er ein Stein in einem grossen Baue ist: wozu er zuallererst<br />
fest sein muss, "Stein" sein muss... Vor Allem nicht − Schauspieler! Kurz gesagt − ach, es<br />
wird lang genug noch verschwiegen werden! − was von nun an nicht mehr gebaut wird,<br />
nicht mehr gebaut werden kann, das ist − eine Gesellschaft im alten Verstande des Wortes;<br />
um diesen Bau zu bauen, fehlt Alles, voran das Material. Wir Alle sind kein Material mehr<br />
für eine Gesellschaft: das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist! Es dünkt mich gleichgültig,<br />
dass einstweilen noch die kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art<br />
Mensch, die es heute giebt, unsre Herrn Socialisten, ungefähr das Gegentheil glaubt, hofft,<br />
träumt, vor Allem schreit und schreibt; man liest ja ihr Zukunftswort "freie Gesellschaft"<br />
bereits auf allen Tischen und Wänden. Freie Gesellschaft? Ja! Ja! Aber ihr wisst doch, ihr<br />
Herren, woraus man die baut? Aus hölzernem Eisen! Aus dem berühmten hölzernen Eisen!<br />
Und noch nicht einmal aus hölzernem...<br />
357.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Zum alten Probleme: "was ist deutsch?" − Man rechne bei sich die eigentlichen<br />
Errungenschaften des philosophischen Gedankens nach, welche deutschen Köpfen<br />
verdankt werden: sind sie in irgend einem erlaubten Sinne auch noch der ganzen Rasse zu<br />
Gute zu rechnen? Dürfen wir sagen: sie sind zugleich das Werk der "deutschen Seele",<br />
mindestens deren Symptom, in dem Sinne, in welchem wir etwa Plato's Ideomanie, seinen<br />
fast religiösen Formen−Wahnsinn zugleich als ein Ereigniss und Zeugniss der<br />
"griechischen Seele" zu nehmen gewohnt sind? Oder wäre das Umgekehrte wahr? wären<br />
sie gerade so individuell, so sehr Ausnahme vom Geiste der Rasse, wie es zum Beispiel<br />
Goethe's Heidenthum mit gutem Gewissen war? Oder wie es Bismarck's Macchiavellismus<br />
mit gutem Gewissen, seine sogenannte Realpolitik unter Deutschen ist? Widersprächen<br />
unsre Philosophen vielleicht sogar dem Bedürfnisse der "deutschen Seele"? Kurz, waren<br />
die deutschen Philosophen wirklich − philosophische Deutsche? − Ich erinnere an drei<br />
Fälle. Zuerst an Leibnitzens unvergleichliche Einsicht, mit der er nicht nur gegen<br />
Descartes, sondern gegen Alles, was bis zu ihm philosophirt hatte, Recht bekam, − dass die<br />
Bewusstheit nur ein Accidens der Vorstellung ist, nicht deren nothwendiges und<br />
wesentliches Attribut, dass also das, was wir Bewusstsein nennen, nur einen Zustand<br />
unsrer geistigen und seelischen Welt ausmacht (vielleicht einen krankhaften Zustand) und<br />
bei weitem nicht sie selbst: − ist an diesem Gedanken, dessen Tiefe auch heute noch nicht<br />
ausgeschöpft ist, etwas Deutsches? Giebt es einen Grund zu muthmaassen, dass nicht leicht<br />
ein Lateiner auf diese Umdrehung des Augenscheins verfallen sein würde? − denn es ist<br />
eine Umdrehung. Erinnern wir uns zweitens an Kant's ungeheures Fragezeichen, welches<br />
er an den Begriff "Causalität" schrieb, − nicht dass er wie Hume dessen Recht überhaupt<br />
bezweifelt hätte: er begann vielmehr vorsichtig das Reich abzugrenzen, innerhalb dessen<br />
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