Nietzsche, Friedrich - Di...
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unsre eigne Sache zu lassen und zuzuspringen. Ich weiss es. es giebt hundert anständige<br />
und rühmliche Arten, um mich von meinem Wege zu verlieren, und wahrlich höchst<br />
"moralische" Arten! Ja, die Ansicht der jetzigen Mitleid−Moralprediger geht sogar dahin,<br />
dass eben <strong>Di</strong>ess und nur <strong>Di</strong>ess allein moralisch sei: − sich dergestalt von seinem Wege zu<br />
verlieren und dem Nächsten beizuspringen. Ich weiss es ebenso gewiss: ich brauche mich<br />
nur dem Anblicke einer wirklichen Noth auszuliefern, so bin ich auch verloren! Und wenn<br />
ein leidender Freund zu mir sagte: "Siehe, ich werde bald sterben; versprich mir doch, mit<br />
mir zu sterben" − ich verspräche es, ebenso wie mich der Anblick jenes für seine Freiheit<br />
kämpfenden Bergvölkchens dazu bringen würde, ihm meine Hand und mein Leben<br />
anzubieten: − um einmal aus guten Gründen schlechte Beispiele zu wählen. Ja, es giebt<br />
eine heimliche Verführung sogar in alle diesem Mitleid−Erweckenden und<br />
Hülfe−Rufenden: eben unser "eigener Weg" ist eine zu harte und anspruchsvolle Sache<br />
und zu ferne von der Liebe und Dankbarkeit der Anderen, − wir entlaufen ihm gar nicht<br />
ungerne, ihm und unserm eigensten Gewissen, und flüchten uns unter das Gewissen der<br />
Anderen und hinein in den lieblichen Tempel der, "Religion des Mitleidens". Sobald jetzt<br />
irgend ein Krieg ausbricht, so bricht damit immer auch gerade in den Edelsten eines<br />
Volkes eine freilich geheim gehaltene Lust aus: sie werfen sich mit Entzücken der neuen<br />
Gefahr des Todes entgegen, weil sie in der Aufopferung für das Vaterland endlich jene<br />
lange gesuchte Erlaubniss zu haben glauben − die Erlaubniss, ihrem Ziele auszuweichen: −<br />
der Krieg ist für sie ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen.<br />
Und, um hier Einiges zu verschweigen: so will ich doch meine Moral nicht verschweigen,<br />
welche zu mir sagt: Lebe im Verborgenen, damit du dir leben kannst! Lebe unwissend über<br />
Das, was deinem Zeitalter das Wichtigste dünkt! Lege zwischen dich und heute wenigstens<br />
die Haut von drei Jahrhunderten! Und das Geschrei von heute, der Lärm der Kriege und<br />
Revolutionen, soll dir ein Gemurmel sein! Du wirst auch helfen wollen: aber nur Denen,<br />
deren Noth du ganz verstehst, weil sie mit dir Ein Leid und Eine Hoffnung haben − deinen<br />
Freunden: und nur auf die Weise, wie du dir selber hilfst: − ich will sie muthiger,<br />
aushaltender, einfacher, fröhlicher machen! Ich will sie Das lehren, was jetzt so Wenige<br />
verstehen und jene Prediger des Mitleidens am wenigsten: − die Mitfreude!<br />
339.<br />
<strong>Nietzsche</strong><br />
Vita femina. − <strong>Di</strong>e letzten Schönheiten eines Werkes zu sehen − dazu reicht alles Wissen<br />
und aller guter Wille nicht aus; es bedarf der seltensten glücklichen Zufälle, damit einmal<br />
der Wolkenschleier von diesen Gipfeln für uns weiche und die Sonne auf ihnen glühe.<br />
Nicht nur müssen wir gerade an der rechten Stelle stehen, diess zu sehen: es muss gerade<br />
unsere Seele selber den Schleier von ihren Höhen weggezogen haben und eines äusseren<br />
Ausdruckes und Gleichnisses bedürftig sein, wie um einen Halt zu haben und ihrer selber<br />
mächtig zu bleiben. <strong>Di</strong>ess Alles aber kommt so selten gleichzeitig zusammen, dass ich<br />
glauben möchte, die höchsten Höhen alles Guten, sei es Werk, That, Mensch, Natur, seien<br />
bisher für die Meisten und selbst für die Besten etwas Verborgenes und Verhülltes<br />
gewesen: − was sich aber uns enthüllt, das enthüllt sich uns Ein Mal! − <strong>Di</strong>e Griechen<br />
339. 142