Grammatiktheorie - German Grammar Group FU Berlin - Freie ...
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212 8 Head-Driven Phrase Structure <strong>Grammar</strong><br />
Nun ist es aber normalerweise nicht so, dass kennen einen vollständigen Satz selegiert und<br />
sonst nichts weiter, wie es zur Analyse des Verberstsatzes mit kennt als Kopf notwendig<br />
wäre. Auch muss sichergestellt werden, dass die Verbalprojektion, mit der kennt kombiniert<br />
wird, genau die zu kennt gehörige Verbspur enthält. Könnte sie nämlich die Verbspur<br />
enthalten, die zu gibt gehört, so würde man Sätze wie (45b) analysieren können:<br />
(45) a. Gibt [der Mann der Frau das Buch _gibt].<br />
b. * Kennt [der Mann der Frau das Buch _gibt].<br />
In den obigen Erläuterungen wurde die Zusammengehörigkeit von vorangestelltem Verb<br />
und Verbspur durch eine Koindizierung ausgedrückt. In HPSG wird Identität von Information<br />
immer durch Strukturteilung hergestellt. Das Verb in Initialstellung muss also fordern,<br />
dass die Spur genau die Eigenschaften des Verbs hat, die das Verb hätte, wenn es sich in<br />
Letztstellung befände. Die Information, die geteilt werden muss, ist also sämtliche lokal<br />
relevante syntaktische und semantische Information, d. h. alle Information unter LOCAL.<br />
Da PHON nicht zu den LOCAL-Merkmalen gehört, wird es nicht geteilt, weshalb sich die<br />
PHON-Werte von Spur und Verb in Initialstellung unterscheiden können. Bisher fehlt noch<br />
ein entscheidendes Detail in der Erklärung der Analyse: Eine Strukturteilung des LOCAL-<br />
Wertes der Spur kann nicht direkt vorgenommen werden, denn das Verb kennt kann ja nur<br />
die Eigenschaften der Projektion der Spur selegieren und die SUBCAT-Liste der selegierten<br />
Projektion ist die leere Liste, was uns wieder zu dem Problem mit (45b) bringt. Man<br />
muss also sicherstellen, dass die gesamte Information über die Verbspur am obersten Knoten<br />
ihrer Projektion verfügbar ist. Das kann man erreichen, indem man ein entsprechendes<br />
Kopfmerkmal einführt, dessen Wert genau dem LOCAL-Wert der Spur entspricht. Dieses<br />
Merkmal wird DSL genannt. Es steht für double slash und wurde so genannt, weil es eine<br />
ähnliche Funktion wie das SLASH-Merkmal hat, mit dem wir uns im nächsten Abschnitt<br />
beschäftigen werden. 13 (46) zeigt den angepassten Eintrag für die Verbspur:<br />
13 Das Merkmal DSL wurde von Jacobson (1987) im Rahmen der Kategorialgrammatik zur Beschreibung von<br />
Kopfbewegung für englische invertierte Strukturen eingeführt. Borsley (1989) hat diese Idee aufgegriffen,<br />
innerhalb der HPSG-Theorie umgesetzt und auch gezeigt, wie Kopfbewegung in der HPSG-Variante des<br />
CP/IP-Systems mittels DSL modelliert werden kann. Die Einführung des DSL-Merkmals zur Beschreibung<br />
von Bewegungsprozessen in die Theorie der HPSG ist dadurch motiviert, dass es sich bei solcherart Bewegung<br />
im Gegensatz zu Fernabhängigkeiten, wie sie im Abschnitt 8.5 besprochen werden, um eine lokale<br />
Bewegung handelt.<br />
Der Vorschlag, Information über die Verbspur als Teil der Kopfinformation nach oben zu reichen, stammt<br />
von Oliva (1992).<br />
8.3 Verbstellung 213<br />
(46) ⎡Verbspur<br />
für kennt (vorläufige Version):<br />
PHON 〈〉<br />
⎢<br />
⎡ ⎡ ⎡ ⎤<br />
⎢<br />
VFORM fin<br />
⎢<br />
⎢ ⎢<br />
⎢<br />
⎢ ⎢HEAD<br />
⎣DSL<br />
1 ⎦<br />
⎢<br />
⎢CAT<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢ ⎢ verb<br />
⎢<br />
⎢ ⎣ �<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢ SUBCAT<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢SYNSEM|LOC<br />
1 ⎢ ⎡<br />
⎤<br />
⎢<br />
⎢ IND 4<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢ ⎢ ⎡<br />
⎤<br />
⎢<br />
⎢ ⎢ � EVENT 4 ⎥<br />
�⎥<br />
⎢<br />
⎢ ⎢<br />
⎢<br />
⎢CONT<br />
⎢ ⎢<br />
⎢<br />
⎢ ⎢RELS<br />
⎢EXPERIENCER<br />
2 ⎥ ⎥<br />
⎥ ⎥<br />
⎣<br />
⎣ ⎣ ⎣THEME<br />
3 ⎦ ⎥<br />
⎦<br />
kennen<br />
NP[nom] 2 , NP[acc] 3<br />
⎤<br />
⎤⎤<br />
⎥<br />
⎥⎥⎥<br />
⎥⎥⎥<br />
⎥⎥⎥<br />
⎥⎥⎥<br />
�⎦⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎦⎥<br />
⎦<br />
Durch die Teilung des LOCAL-Wertes mit dem DSL-Wert in (46) ist die Information über<br />
syntaktische und semantische Information der Verbspur auch an ihrer Maximalprojektion<br />
verfügbar, und das Verb in Erststellung kann sicherstellen, dass die Projektion der Spur zu<br />
ihm passt.<br />
Der spezielle Lexikoneintrag für die Verberststellung wird durch die folgende Lexikonregel<br />
14 lizenziert:<br />
(47) Lexikonregel für Verb in Erststellung:<br />
⎡<br />
⎡<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎣SYNSEM|LOC 1 ⎣CAT|HEAD ⎡ ⎤⎤⎤<br />
VFORM fin<br />
⎣INITIAL<br />
− ⎦⎥<br />
⎦<br />
⎥<br />
⎦ ↦→<br />
verb<br />
⎡<br />
⎡ ⎡ ⎤<br />
VFORM fin<br />
⎢<br />
⎢ ⎢<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢HEAD<br />
⎢INITIAL<br />
+ ⎥<br />
⎣<br />
⎢<br />
⎢<br />
DSL none⎦<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢SYNSEM|LOC|CAT<br />
⎢ verb<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢ �<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎢<br />
⎣<br />
⎣SUBCAT<br />
⎡<br />
⎢<br />
⎣LOC|CAT ⎡<br />
⎢<br />
⎣ HEAD<br />
⎤⎤<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
� �⎤⎤<br />
⎥⎥<br />
DSL 1 �⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
verb<br />
⎥⎥<br />
⎥⎥<br />
⎦⎦<br />
⎦⎥<br />
⎦<br />
SUBCAT 〈〉<br />
14 Die Analyse mittels Lexikonregel kann Sätze wie (i) nicht erklären:<br />
(i) Karl kennt und liebt diese Schallplatte.<br />
Das liegt daran, dass Lexikonregeln nicht auf das Ergebnis einer Koordination, das ja ein komplexes syntaktisches<br />
Objekt ist, angewendet werden können. Wendet man die Lexikonregel einzeln auf die Verben an,<br />
dann bekommt man Varianten der Verben, die jeweils eine Verbspur für kennen und lieben selegieren. Da in<br />
Koordinationsstrukturen die CAT-Werte der Konjunkte identifiziert werden, wäre eine koordinative Verknüpfung<br />
der beiden V1-Varianten von kennt und liebt ausgeschlossen, denn im DSL-Wert der selegierten VPen<br />
ist auch die Bedeutung der jeweiligen Verben enthalten (Müller: 2005a, 13). Statt einer Lexikonregel muss<br />
man eine unäre syntaktische Regel annehmen, die dann auf die Phrase kennt und liebt angewendet wird.<br />
Wie wir gesehen haben, entsprechen Lexikonregeln in der hier angenommenen HPSG-Formalisierung einer<br />
unären Regel, so dass der Unterschied zwischen (47) und einer entsprechenden Syntaxregel hauptsächlich<br />
einer in der Darstellung ist.