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Grammatiktheorie - German Grammar Group FU Berlin - Freie ...

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324 11 Diskussion<br />

Sätze wie (44e) – hier als (68) wiederholt – ungrammatisch sind (Brown und Hanlon:<br />

1970, 42–52; Marcus: 1993).<br />

(68) * Is the dog that in the corner is hungry?<br />

Dass Eltern ihre Kinder nicht mit dem ungrammatischen Satz des Tages wecken, ist sicher<br />

richtig, aber dennoch verfügen Kinder über negative Evidenz verschiedenster Art. Zum<br />

Beispiel haben Chouinard und Clark (2003) gezeigt, dass englischsprachige und französischsprachige<br />

Eltern nicht wohlgeformte Äußerungen ihrer Kinder korrigieren. So wiederholen<br />

sie z. B. Äußerungen, in denen ein Verb falsch flektiert wurde. Aus der Tatsache,<br />

dass die Äußerung wiederholt wurde, und daraus, was verändert wurde, können Kinder<br />

schließen, dass sie einen Fehler gemacht haben, und Chouinard und Clark haben auch gezeigt,<br />

dass sie das tun. Die Autoren haben sich die Daten von fünf Kindern angesehen,<br />

deren Eltern alle einen akademischen Abschluss haben. Sie diskutieren aber auch das Eltern-Kind-Verhältnis<br />

in anderen Kulturen (siehe Ochs: 1982; Ochs und Schieffelin: 1984<br />

und Marcus: 1993, 71 für einen Überblick) und verweisen auf Studien zu amerikanischen<br />

Familien mit geringerem sozioökonomischen Status (Seite 660).<br />

Eine weitere Form von negativer Evidenz ist indirekte negative Evidenz, von der auch<br />

Chomsky (1981a, 9) annimmt, dass sie beim Spracherwerb eine Rolle spielen könnte.<br />

Goldberg (1995, Abschnitt 5.2) gibt als Beispiel die Äußerung in (69a): 36<br />

(69) a. Look! The magician made the bird disappear.<br />

b. * The magician disappeared the bird.<br />

Aus der Tatsache, dass Erwachsene die wesentlich aufwändigere Kausativkonstruktion mit<br />

make wählen, kann das Kind schließen, dass das Verb disappear im Gegensatz zu anderen<br />

Verben wie melt nicht transitiv verwendbar ist.<br />

Ein unmittelbar einleuchtendes Beispiel für die Rolle, die indirekte negative Evidenz<br />

spielt, kommt aus der Morphologie. Es gibt bestimmte produktive Regeln, die aber dennoch<br />

manchmal nicht angewendet werden, da es ein Wort gibt, das die Anwendung der<br />

Regel blockiert. Ein Beispiel ist die -er-Nominalisierung im Deutschen. Durch das Anhängen<br />

eines -er an einen Verbstamm kann man ein Nomen ableiten, das sich auf jemanden<br />

bezieht, der eine bestimmte Handlung (oft habituell) ausführt (Raucher, Maler, Sänger,<br />

Tänzer). Allerdings ist Stehler eher ungebräuchlich. Die Bildung von Stehler ist durch<br />

die Existenz von Dieb blockiert. Sprachlerner müssen also aus dem Nichtvorkommen von<br />

Stehler ableiten, dass die Nominalisierungsregel für das Verb stehlen nicht anwendbar ist.<br />

Genauso würde ein Sprecher mit einer Grammatik des Englischen, die keine Beschränkungen<br />

in Bezug auf die Stellung von Adverbien der Art und Weise macht, erwarten, dass<br />

beide Abfolgen in (70) möglich sind (Scholz und Pullum: 2002, 206):<br />

(70) a. call the police immediately<br />

b. * call immediately the police<br />

Aus der Tatsache, dass Verbphrasen wie (70b) im Input (fast) nie vorkommen, kann ein<br />

Lerner indirekt schließen, dass sie wohl nicht Bestandteil der Sprache sind. Mit entsprechenden<br />

statistischen Lernverfahren lässt sich das auch modellieren.<br />

36 Siehe auch Tomasello: 2006a.<br />

11.2 Generativ aufzählende vs. modelltheoretische Ansätze 325<br />

Die bisher angeführten Beispiele für das Wirken negativer Evidenz sind eher Plausibilitätsargumente.<br />

Stefanowitsch (2008) hat korpuslinguistische Untersuchungen zu statistischer<br />

Verteilung mit Akzeptabilitätsexperimenten kombiniert und gezeigt, dass aus Vorkommenserwartungen<br />

gewonnene negative Evidenz mit Akzeptabilitätsurteilen von Sprechern<br />

übereinstimmt. Das Verfahren soll nun kurz besprochen werden: Stefanowitsch geht<br />

von folgendem Prinzip aus:<br />

(71) Bilde Erwartungen in Bezug auf die Frequenz des gemeinsamen Vorkommens linguistischer<br />

Eigenschaften oder Elemente auf Grundlage des Vorkommens der individuellen<br />

Vorkommenshäufigkeit der jeweiligen Eigenschaften oder Elemente<br />

und vergleiche diese Erwartungen mit der tatsächlichen Frequenz des gemeinsamen<br />

Vorkommens.<br />

Stefanowitsch arbeitet mit dem Teil des International Corpus of English, der das britische<br />

Englisch enthält (ICE-GB). In diesem Korpus kommt das Verb say 3.333 mal vor und<br />

Sätze mit ditransitiven Verben (Subj Verb Obj Obj) kommen 1.824 mal vor. Die Gesamtzahl<br />

der Verben im Korpus beträgt 136.551. Würden alle Verben gleichverteilt in allen<br />

Satzmustern auftreten, wäre zu erwarten, dass das Verb sagen 44,52 mal im ditransitiven<br />

Muster vorkommt (1.824 × 3.333 / 136.551). Die Anzahl der tatsächlichen Vorkommen<br />

ist jedoch 0, denn Sätze wie (72a) werden von Sprechern des Englischen im Gegensatz zu<br />

(72b) nicht verwendet.<br />

(72) a. * Dad said Sue something nice.<br />

b. Dad said something nice to Sue.<br />

Stefanowitsch hat gezeigt, dass dieses Nichtvorkommen von say im ditransitiven Satzmuster<br />

signifikant ist. Des Weiteren hat er untersucht, wie Akzeptabilitätsurteile mit dem<br />

häufigen Vorkommen von Verben in bestimmten Konstruktionen bzw. mit dem häufigen<br />

Nicht-Vorkommen in bestimmten Konstruktionen zusammenhängen. In einem ersten Experiment<br />

konnte er zeigen, dass das häufige Nichtvorkommen von Elementen in bestimmten<br />

Konstruktionen mit den Akzeptabilitätsurteilen der Sprecher korreliert, wohingegen<br />

das für das häufige Vorkommen eines Verbs in einer Konstruktion nicht der Fall ist.<br />

Zusammenfassend kann man festhalten, dass indirekte negative Evidenz aus dem sprachlichen<br />

Input abgeleitet werden kann und dass diese auch eine wesentliche Rolle zu spielen<br />

scheint.<br />

11.1.9 Zusammenfassung<br />

Es ergibt sich also, dass keines der Argumente für angeborenes sprachliches Wissen unwidersprochen<br />

ist. Das schließt natürlich nicht aus, dass es trotzdem angeborenes sprachliches<br />

Wissen gibt, nur müssen diejenigen, die entsprechendes Wissen als Grundannahme in<br />

ihre Theorie einbauen, sorgfältiger, als das bisher der Fall war, nachweisen, dass die Dinge,<br />

von denen sie annehmen, dass sie angeboren sind, auch wirklich Teil unseres sprachlichen<br />

Wissens sind und dass sie nicht allein aus sprachlichem Input erlernbar sind.<br />

11.2 Generativ aufzählende vs. modelltheoretische Ansätze<br />

Generativ aufzählende Ansätze gehen davon aus, dass eine Grammatik eine Menge von<br />

Symbolfolgen (Wortfolgen) erzeugt. Daher kommt auch die Bezeichnung generative Gram-

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