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Grammatiktheorie - German Grammar Group FU Berlin - Freie ...

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294 11 Diskussion<br />

Äußerungen erzeugen, geeignet sind, Sprache zu modellieren und dass man für die Daten<br />

rekursive Regeln braucht, weshalb Menschen eine mentale Repräsentation eines rekursiven<br />

Verfahrens haben, das unendlich viele Ausdrücke generiert (Chomsky, 1956, 115;<br />

2002, 86–87), weshalb die Sprache dann in einem bestimmten Sinn aus unendlich vielen<br />

Ausdrücken besteht. In diesem Argument gibt es zwei Fehler, auf die Pullum und Scholz<br />

(2010) hinweisen: Selbst wenn man generative Grammatiken annimmt, kann es sein, dass<br />

eine kontextsensitive Grammatik trotz rekursiver Regeln nur eine endliche Menge erzeugt.<br />

Sie geben ein interessantes Beispiel von András Kornai (S. 120–121).<br />

Der wichtigere Fehler besteht darin, dass es nicht zwingend nötig ist, anzunehmen, dass<br />

Grammatiken Mengen erzeugen. Es gibt drei explizite und formalisierte Alternativen, von<br />

denen hier nur die dritte, nämlich die modelltheoretischen und deshalb beschränkungsbasierten<br />

Ansätze, genannt sei (siehe auch Abschnitt 11.2). Johnson und Postals Arc Pair<br />

<strong>Grammar</strong> (1980), LFG mit der Formalisierung von Kaplan (1995), GPSG mit der Reformalisierung<br />

durch Rogers (1997) und HPSG mit den Annahmen von King (1999) und<br />

Pollard (1999) bzw. Richter (2007) sind Beispiele für modelltheoretische Ansätze. In beschränkungsbasierten<br />

Theorien sagt man über (31) nur, dass bestimmte Einstellungsverben<br />

eine Nominativ-NP und einen dass-Satz selegieren und dass sie in bestimmten lokalen<br />

Konfigurationen auftreten, in denen eine bestimmte Beziehung zwischen den involvierten<br />

Elementen besteht. Zu diesen Beziehungen gehört z. B. Subjekt-Verb-Kongruenz. Auf<br />

diese Weise kann man Äußerungen wie (31) repräsentieren, muss aber überhaupt nichts<br />

darüber sagen, wie viele Sätze eingebettet werden können. Das heißt, beschränkungsbasierte<br />

Theorien sind mit jeder Antwort auf die Frage kompatibel, ob es unendlich oder<br />

endlich viele Strukturen gibt. Zu entsprechend formulierten Kompetenzgrammatiken kann<br />

man dann ein Performanzmodell entwickeln, das erklärt, warum bestimmte Wortfolgen<br />

unakzeptabel sind (siehe Abschnitt 11.3).<br />

11.1.1.8.2 Empirische Probleme<br />

Mitunter wird behauptet, dass alle natürlichen Sprachen rekursiv sind und dass in allen<br />

Sprachen beliebig lange Sätze gebildet werden können (z. B. Hornstein, Nunes und Grohmann:<br />

2005, 7, für einen Überblick und weiter Quellen siehe Pullum und Scholz: 2010,<br />

Abschnitt 2). Wenn von Rekursivität in natürlichen Sprachen gesprochen wird, sind meistens<br />

Strukturen mit Selbsteinbettung, wie man sie z. B. für die Analyse von (31) annehmen<br />

würde, gemeint (Fitch: 2010). Es gibt jedoch eventuell Sprachen, die keine Selbsteinbettung<br />

erlauben. Everett (2005) behauptet, dass Pirahã eine solche Sprache ist (siehe<br />

jedoch auch Nevins, Pesetsky und Rodrigues: 2009 und Everett: 2009). Als weiteres Beispiel<br />

für eine Sprache ohne Rekursion wird mitunter mit Verweis auf Hale: 1976 Walpiri<br />

genannt. Hales Regel für die Kombination eines Satzes mit einem Relativsatz ist allerdings<br />

rekursiv (Seite 85). Diese Rekursion wird auch auf Seite 94 explizit thematisiert. 22 Pullum<br />

und Scholz (2010, 131) diskutieren Hixkaryána, eine amazonische Sprache aus der Fami-<br />

22 Allerdings schreibt er auf Seite 78, dass Relativsätze von den Sätzen, die das Bezugsnomen enthalten, durch<br />

eine Pause getrennt sind. Relativsätze stehen in Walpiri immer peripher, d. h. links oder rechts eines Satzes<br />

mit Bezugsnomen. Ähnliche Konstruktionen findet man in älteren Stufen des Deutschen:<br />

(i) Es war einmal ein Mann. Der hatte sieben Söhne.<br />

Es könnte sich also um Verknüpfung von Sätzen auf der Textebene und nicht um Rekursion auf der Satzebene<br />

handeln.<br />

11.1 Angeborenheit sprachspezifischen Wissens 295<br />

lie der karibischen Sprachen, die mit Pirahã nicht verwandt ist. In dieser Sprache gibt es<br />

zwar Einbettung, das eingebettete Material hat aber eine andere Form als der übergeordnete<br />

Satz. Es könnte also sein, dass solche Einbettungen nicht beliebig weitergeführt werden<br />

können. In Hixkaryána gibt es keine Möglichkeit zur Koordination von Phrasen oder Sätzen<br />

(Derbyshire: 1979, 45 zitiert nach Pullum und Scholz: 2010, 131), weshalb auch diese<br />

Möglichkeit, rekursive Satzeinbettungen zu bilden, in dieser Sprache nicht vorhanden ist.<br />

Weitere Sprachen ohne Selbsteinbettung scheinen Akkadisch, Dyirbal und das Proto-Uralische<br />

und einige moderne Ableger davon zu sein. Zu entsprechenden Literaturverweisen<br />

siehe Pullum und Scholz: 2010, 130–131.<br />

Es gibt natürlich eine triviale Art, in der alle natürlichen Sprachen rekursiv sind: Die<br />

folgende Regel besagt, dass eine bestimmte Anzahl von Symbolen zu einem Symbol kombiniert<br />

werden kann. 23<br />

(32) X → X . . . X<br />

In diesem Sinne sind alle natürlichen Sprachen rekursiv, denn die Kombination einfacher<br />

Symbole zu komplexeren Symbolen ist eine Grundeigenschaft von Sprache (Hockett:<br />

1960, 6). Dass der Kampf um Pirahã so erbittert geführt wird, legt allerdings nahe, dass<br />

diese Art von Rekursion nicht gemeint ist. Fitch hat das in einem Vortrag auf der DGfS-<br />

Tagung 2010 auch explizit klargestellt. Siehe auch Fitch (2010).<br />

Auch von den Kombinationsregeln der Kategorialgrammatik wird angenommen, dass<br />

sie universelle Gültigkeit haben. Mit diesen Regeln kann man einen Funktor mit seinen<br />

Argumenten kombinieren (z. B. X/Y * Y = X). Die Regeln sind also fast so abstrakt<br />

wie die Regel in (32). Der Unterschied besteht darin, dass ein Element der Funktor sein<br />

muss. Entsprechende Beschränkungen gibt es natürlich innerhalb des Minimalistischen<br />

Programms auch, etwa als Selektionsmerkmal (siehe Abschnitt 3.6.4) bzw. als Beschränkung<br />

für die Zuweisung semantischer Rollen. Ob eine Kategorialgrammatik letztendlich<br />

rekursive Strukturen lizenziert, hängt aber nicht von den sehr allgemeinen Kombinationsschemata<br />

ab, sondern von den Lexikoneinträgen. Mit den Lexikoneinträgen in (33) kann<br />

man nur zwei Sätze analysieren, rekursive Strukturen können nicht aufgebaut werden.<br />

(33) a. die: np/n<br />

b. Frau: n<br />

c. Katze: n<br />

d. sieht: (s\np)/np<br />

Erweitert man das Lexikon z. B. um Modifikatoren der Kategorie n/n oder um eine Konjunktion<br />

mit der Kategorie (X\X)/X, dann entsteht eine rekursive Grammatik.<br />

Fitch, Hauser und Chomsky (2005, 203) merken an, dass das Vorhandensein von Sprachen,<br />

die in ihrer Syntax keine rekursiven Strukturen lizenzieren, kein Problem für UGbasierte<br />

Theorien darstellt, denn nicht alle in UG angelegten Möglichkeiten müssen von<br />

Einzelsprachen auch ausgeschöpft werden. Bei solch einer Sichtweise auf UG ergibt sich<br />

allerdings eine Situation, in der man beliebige Eigenschaften von Sprachen als Bestandteil<br />

von UG postulieren kann, die dann je nach Einzelsprache eine Rolle spielen oder<br />

nicht. Der Extremfall eines solchen Ansatzes wäre, dass man die Grammatiken aller Sprachen<br />

(eventuell mit verschiedenen Symbolen wie NPSpanisch, NPDeutsch) zu Bestandteilen<br />

23 Chomsky (2005, 11) geht davon aus, dass Merge n Objekte verknüpft. Ein Spezialfall ist binäres Merge.

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