Grammatiktheorie - German Grammar Group FU Berlin - Freie ...
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336 11 Diskussion<br />
11.3.2 Inkrementelle Verarbeitung<br />
Der nächste wichtige Punkt, den Sag und Wasow (erscheint) ansprechen, ist die Tatsache,<br />
dass sowohl die Verarbeitung als auch die Produktion von Sprache inkrementell erfolgt.<br />
Sobald wir Wörter, ja sogar nur Anfänge von Wörtern hören oder lesen, beginnen wir<br />
damit, dem Wahrgenommenen Bedeutung zuzuordnen und Struktur aufzubauen. Genauso<br />
beginnen wir mitunter mit dem Sprechen bevor die Planung der gesamten Äußerung<br />
abgeschlossen ist. Dass dem so ist, zeigen Abbrüche und Selbstkorrekturen in spontaner<br />
Sprache (Clark und Wasow: 1998; Clark und Fox Tree: 2002). Für die Verarbeitung gesprochener<br />
Sprache konnten Tanenhaus et al. (1996) zeigen, dass der Zugriff auf ein Wort<br />
bereits erfolgt, wenn man einen Teil des Wortes gehört hat (siehe auch schon Marslen-<br />
Wilson: 1975). Die Autoren der Studie haben dazu ein Experiment durchgeführt, in dem<br />
Personen aufgefordert wurden, bestimmte Objekte auf einem Gitter in die Hand zu nehmen<br />
und umzustellen. Mit Blickbewegungsmessungen konnten Tanenhaus und Kollegen<br />
dann nachweisen, dass die Versuchspersonen in Fällen, in denen die Lautsequenz zu Beginn<br />
der benutzen Wörter eindeutig war, das Objekt schneller identifizieren konnten, als in<br />
Fällen, in denen die ersten Laute in mehreren Wörtern vorkommen. Ein Beispiel hierfür ist<br />
eine Konfiguration mit einer Kerze (candle) und einem Bonbon (candy): candy und candle<br />
beginnen beide mit can, so dass nach dem Hören dieser Lautfolge noch nicht entschieden<br />
werden kann, auf welchen Lexikoneintrag zugegriffen werden muss. Der Zugriff erfolgt<br />
deshalb leicht verzögert im Vergleich zu Zugriffen, bei denen die Wörter, die zu den jeweiligen<br />
Gegenständen gehören, kein gleiches Segment am Wortanfang haben (Tanenhaus<br />
et al.: 1995, 1633).<br />
Wenn in den Anweisungen komplexe Nominalphrasen verwendet wurden (Touch the<br />
starred yellow square), richteten die Versuchspersonen ihren Blick bereits 250ms nachdem<br />
das Objekt eindeutig identifizierbar war auf den entsprechenden Gegenstand. Das<br />
heißt, wenn es nur ein Objekt mit Sternen gab, ging der Blick nach starred zu diesem,<br />
in Versuchen, in denen es neben dem gelben Quadrat mit Sternen auch noch zwei gelbe<br />
Blöcke mit Sternen gab, wurde das gelbe Quadrat mit Sternen erst nach der Verarbeitung<br />
des Wortes square angeblickt (Tanenhaus et al.: 1995, 1632). Die Planung und Ausführung<br />
eines Blickes dauert 200ms. Man kann hieraus ableiten, dass Hörer die Wörter direkt<br />
kombinieren und in dem Moment, in dem ausreichende Information vorhanden ist, soviel<br />
Struktur aufgebaut haben, dass sie die (potentielle) Bedeutung eines Ausdrucks erfassen<br />
und entsprechend reagieren können. Dieser Befund ist mit Modellen inkompatibel, die<br />
davon ausgehen, dass man eine komplette Nominalgruppe oder sogar eine vollständige<br />
Äußerung noch größerer Komplexität gehört haben muss, bevor man Rückschlüsse auf die<br />
Bedeutung der Phrase bzw. Äußerung ziehen kann. Insbesondere Ansätze im Rahmen des<br />
Minimalistischen Programms, die davon ausgehen, dass immer nur ganze Phrasen bzw.<br />
sogenannte Phasen 48 interpretiert werden (Chomsky: 1999 und explizit im Kontrast zur<br />
Kategorialgrammatik bei Marantz: 2005, 441), müssen als psycholinguistisch inadäquat<br />
verworfen werden. 49<br />
48 Gewöhnlich werden nur CP und vP zu den Phasen gezählt.<br />
49 Sternefeld (2006, 729–730) hat darauf hingewiesen, dass die in Theorien im Rahmen des Minimalistischen<br />
Programms übliche Redeweise von nicht interpretierbaren Merkmalen völlig unangebracht ist. Chomsky<br />
geht davon aus, dass es Merkmale gibt, die in einer Derivation getilgt werden müssen, da sie nur für die<br />
Syntax relevant sind. Werden sie nicht getilgt, crasht die Derivation an der Schnittstelle zur Semantik. Daraus<br />
ergibt sich, dass NP nach Annahme der erwähnten Theorien nicht interpretierbar sein dürften, denn sie<br />
11.3 Kompetenz/Performanz-Unterscheidung 337<br />
Bei kontrastiver Betonung einzelner Adjektive in komplexen Nominalphrasen (z. B. das<br />
gróße blaue Dreieck) gehen die Hörer davon aus, dass es ein Gegenstück zum Referenzobjekt<br />
geben muss, z. B. ein kleines blaues Dreieck. Die Blickbewegungsstudien von Tanenhaus<br />
et al. (1996) haben gezeigt, dass die Einbeziehung solcher Information dazu führt,<br />
dass Objekte schneller identifiziert werden können.<br />
Ebenfalls mit Blickbewegungsstudien konnten Arnold et al. (2004) zeigen, dass Hörer<br />
dazu neigen, ihren Blick auf bisher uneingeführte Gegenstände zu lenken, wenn der<br />
Kommunikationspartner seinen Wortfluss durch um oder uh unterbricht. Das wird darauf<br />
zurückgeführt, dass man annimmt, dass Hörer davon ausgehen, dass die Beschreibung bisher<br />
unerwähnter Gegenstände komplexer ist, als die Bezugnahme auf bereits eingeführte<br />
Objekte. Der Sprecher verschafft sich durch um bzw. uh zusätzliche Zeit.<br />
Beispiele wie die soeben genannten stellen Evidenz für Ansätze dar, die davon ausgehen,<br />
dass bei der Sprachverarbeitung Informationen aus allen verfügbaren Kanälen verwendet<br />
werden und dass diese Informationen auch in dem Augenblick verwendet werden,<br />
in dem sie zur Verfügung stehen und nicht etwa erst nach dem Zusammenbau einer gesamten<br />
Äußerung oder einer vollständigen Wortgruppe. Die Ergebnisse experimenteller<br />
Forschung zeigen also, dass die Hypothese einer streng modularen Organisation linguistischen<br />
Wissens verworfen werden muss. Vertreter dieser Hypothese gehen davon aus, dass<br />
die Ausgabe eines Moduls die Eingabe eines anderen Moduls bildet, ohne dass ein Modul<br />
Zugriff auf die internen Zustände und Arbeitsabläufe eines anderen Moduls hat. So könnte<br />
z. B. das Morphologiemodul die Eingaben für das Syntaxmodul liefern, die dann in einem<br />
weiteren Schritt durch das Semantikmodul weiterverarbeitet werden. Für eine solche modulare<br />
Organisation linguistischen Wissens wurden Holzwegsätze (garden path sentences)<br />
wie die in (95) als Evidenz herangezogen:<br />
(95) a. The horse raced past the barn fell.<br />
b. The boat floated down the river sank.<br />
Diese Sätze können von fast allen Sprechern des Englischen nicht verarbeitet werden, da<br />
ihr Parser auf einen Holzweg gerät, weil er eine komplette Struktur für (96a) bzw. (96b)<br />
aufbaut, nur um dann festzustellen, dass jeweils noch ein weiteres Verb folgt, das nicht<br />
integriert werden kann.<br />
(96) a. The horse raced past the barn.<br />
b. The boat floated down the river.<br />
Die eigentliche Struktur von (95) enthält aber einen reduzierten Relativsatz (raced past<br />
the barn bzw. floated down the river), d. h., von der Bedeutung her entsprechen die Sätze<br />
denen in (97):<br />
(97) a. The horse that was raced past the barn fell.<br />
b. The boat that was floated down the river sank.<br />
Diese Fehlleistung des Parsers wurde damit zu erklären versucht, dass man annahm, dass<br />
syntaktische Verarbeitungsstrategien wie z. B. das Konstruieren eines Satzes aus NP und<br />
haben diverse Merkmale, die für die Semantik irrelevant sind und noch getilgt werden müssen (zu einem<br />
Überblick siehe auch Richards: In Vorbereitung). Wie wir gesehen haben, sind solche Theorien mit den<br />
Fakten unvereinbar.