Grammatiktheorie - German Grammar Group FU Berlin - Freie ...
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330 11 Diskussion<br />
Ten Hacken weist auf Beispiele wie (80) hin und behauptet, dass diese problematisch<br />
seien:<br />
(80) a. Niels has two cousins.<br />
b. How many cousins does Niels have?<br />
Bei den Pluralverwendungen kann man nicht einfach annehmen, dass cousins feminin<br />
oder maskulin ist, da die Menge der Verwandten sowohl Frauen als auch Männer enthalten<br />
kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass man im Englischen (81a) äußern<br />
kann, im Deutschen hingegen zur Beschreibung desselben Sachverhalts (81b) verwenden<br />
muss.<br />
(81) a. Niels and Odette are cousins.<br />
b. Niels und Odette sind Cousin und Cousine.<br />
Ten Hacken schlussfolgert, dass der Genuswert unspezifiziert bleiben muss, was seiner<br />
Meinung nach zeigt, dass modelltheoretische Ansätze für die Beschreibung von Sprache<br />
ungeeignet sind.<br />
Überlegt man sich genau, was ten Hacken festgestellt hat, so liegt aber auf der Hand,<br />
wie man das in einem modelltheoretischen Ansatz erfassen kann: Ten Hacken sagt, dass<br />
es nicht sinnvoll ist, für die Pluralform von cousin einen Genuswert zu spezifizieren. Dies<br />
kann man in einem modelltheoretischen Ansatz auf zweierlei Weise erfassen. Man kann<br />
entweder annehmen, dass es bei referentiellen Indizes im Plural kein Genusmerkmal gibt,<br />
also auch die Unterscheidung maskulin/feminin nicht sinnvoll ist, oder man kann einen<br />
weiteren Genuswert einführen, den dann Nomina im Plural haben können.<br />
Für die erste Lösung spricht, dass es keinerlei Flexionsunterschiede hinsichtlich Genus<br />
bei den Pronomina gibt. Es gibt also auch keinen Grund, im Plural Genera zu unterscheiden.<br />
(82) a. Niels and Odette are cousins. They are very smart.<br />
b. The cousins/brothers/sisters are standing over there. They are very smart.<br />
Auch bei der Flexion der Nomina gibt es keinen Unterschied im Plural (brothers, sisters,<br />
books). Im Deutschen ist das anders. Sowohl bei der Nominalflexion als auch bei der<br />
Referenz (einiger) Nominalgruppen gibt es Unterschiede in Bezug auf das natürliche Geschlecht<br />
der Bezugspersonen. Beispiele dafür sind die bereits erwähnten Nomina Cousin<br />
und Cousine und auch Formen mit -in wie Kindergärtnerin. Normalerweise ist das Genus<br />
jedoch etwas Grammatisches, das nichts mit dem natürlichen Geschlecht (Sexus) zu tun<br />
hat. Ein Beispiel ist das Neutrum Mitglied.<br />
Die Frage, die man sich im Zusammenhang mit der Ten-Hacken-Diskussion nun stellen<br />
muss, ist die folgende: Spielt das Genus für die Pronomenbindung im Deutschen eine Rolle?<br />
Wenn man das verneinen kann, dann ist das Merkmal nur innerhalb der Morphologie<br />
relevant, und da ist der Wert für Singular und Plural gleichermaßen im Lexikon für jedes<br />
Nomen festgeschrieben. Bei der Bindung von Personalpronomina gibt es im Deutschen<br />
auch keinen Unterschied im Genus.<br />
(83) Die Schwestern/Brüder/Vereinsmitglieder/Geschwister stehen dort. Sie lächeln.<br />
Allerdings gibt es im Deutschen Adverbialien, die im Genus mit dem Bezugsnomen kongruieren<br />
(Höhle: 1983, Kapitel 6):<br />
11.3 Kompetenz/Performanz-Unterscheidung 331<br />
(84) a. Die Fenster wurden eins nach dem anderen geschlossen.<br />
b. Die Türen wurden eine nach der anderen geschlossen.<br />
c. Die Riegel wurden einer nach dem anderen zugeschoben.<br />
Bei belebten Nomina kann man vom Genus des Bezugsnomens abweichen und eine Form<br />
des Adverbiales verwenden, die dem Sexus entspricht:<br />
(85) a. Die Mitglieder des Politbüros wurden eines/einer nach dem anderen aus dem<br />
Saal getragen.<br />
b. Die Mitglieder des Frauentanzklubs verließen eines/eine nach dem/der anderen<br />
im Schutze der Dunkelheit den Keller.<br />
Diese Abweichung vom Genus zugunsten des Sexus kann man auch bei der Bindung von<br />
Personal- und Relativpronomina im Zusammenhang mit Nomina wie Weib und Mädchen<br />
feststellen:<br />
(86) a. „Farbe bringt die meiste Knete!“ verriet ein 14jähriges türkisches Mädchen,<br />
die die Mauerstückchen am Nachmittag am Checkpoint Charlie an Japaner<br />
und US-Bürger verkauft. 41<br />
b. Es ist ein junges Mädchen, die auf der Suche nach CDs bei Bolzes reinschaut.<br />
42<br />
Zu Beispielen von Goethe, Kafka und Thomas Mann siehe Müller: 1999a, 417–418.<br />
Bei unbelebten Nomina wie in (84) ist die Kongruenz allerdings obligatorisch. Man<br />
braucht für die Analyse des Deutschen also auch im Plural ein Genus-Merkmal. Im Englischen<br />
ist das jedoch nicht der Fall, da es parallele Beispiele mit nach Genus flektierten<br />
Pronomina nicht gibt. Man kann also entweder annehmen, dass Pluralindizes kein Genusmerkmal<br />
haben, oder dass der Genuswert none ist. Damit hat das Merkmal einen Wert und<br />
die formalen Anforderungen sind erfüllt.<br />
Allgemein kann man sich überlegen, dass Fälle wie der von ten Hacken konstruierte<br />
nie ein Problem darstellen können, denn es gibt entweder Werte, die sinnvoll sind, oder<br />
es gibt in bestimmten Zusammenhängen nie einen sinnvollen Wert, dann braucht man das<br />
Merkmal nicht.<br />
Ich habe selbst auf ein technisches Problem im Zusammenhang mit der modelltheoretischen<br />
Sichtweise hingewiesen (Müller: 1999a, Abschnitt 14.4). Dieses Problem ist jedoch<br />
rein technischer Natur. Ich habe gezeigt, dass bei einer bestimmten Analyse des Verbalkomplexes<br />
im Deutschen unechte Mehrdeutigkeiten entstehen, wenn man die Werte für<br />
ein binäres Merkmal (FLIP) bei der Modellbildung auflöst. Das lässt sich allerdings durch<br />
– wenn auch komplizierte – Stipulation eines Wertes in bestimmten Kontexten verhindern.<br />
11.3 Kompetenz/Performanz-Unterscheidung<br />
Im Kapitel 10.6.3 wurde bereits die Kompetenz/Performanz-Unterscheidung angesprochen<br />
(Chomsky: 1965, Kapitel I.1), von der viele <strong>Grammatiktheorie</strong>n ausgehen. Kompetenz-Theorien<br />
sollen das sprachliche Wissen beschreiben und Performanz-Theorien sollen<br />
41 taz, 14.06.1990, S. 6.<br />
42 taz, 13.03.1996, S. 11.