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Grammatiktheorie - German Grammar Group FU Berlin - Freie ...

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106 3 Transformationsgrammatik – Government & Binding<br />

3.7.1 Erklärung des Spracherwerbs<br />

Ein Ziel in der Chomskyschen Grammatikforschung ist es, den Spracherwerb zu erklären.<br />

Dazu nahm man in der GB-Theorie ein möglichst allgemeines Regel-Gerüst an, das für alle<br />

Sprachen gleich ist (die X-Theorie) und dazu allgemeine Prinzipien, die für alle Sprachen<br />

gelten, aber für einzelne Sprachen oder Sprachklassen parametrisierbar sind. Es wurde angenommen,<br />

dass ein Parameter gleichzeitig für mehrere Phänomene relevant ist. Das Prinzipien-und-Parameter-Modell<br />

war äußerst fruchtbar und hat zu einer Vielzahl interessanter<br />

sprachvergleichender Studien geführt, in denen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von<br />

bzw. zwischen Sprachen herausgearbeitet wurden. Aus der Sicht des Spracherwerbs ist die<br />

Idee der Parameter, die dem Input entsprechend gesetzt werden, jedoch oft kritisiert worden,<br />

da sie mit den beobachtbaren Fakten nicht vereinbar ist: Nach dem Erwerb eines Parameterwertes<br />

müsste ein Lerner bestimmte Eigenschaften der jeweiligen Sprache plötzlich<br />

beherrschen. Chomsky (1986b, 146) spricht von Schaltern, die umgelegt werden müssen.<br />

Da angenommen wird, dass ganz verschiedene Grammatikbereiche von einem Parameter<br />

abhängen, müsste das Umlegen eines Schalters also große Auswirkungen auf die gesamte<br />

Grammatik eines Sprachlerners haben. Das sprachliche Verhalten von Kindern ändert<br />

sich jedoch nicht abrupt (Bloom: 1993, 731; Haider: 1993, 6; Abney: 1996, 3; Ackerman<br />

und Webelhuth: 1998, Abschnitt 9.1; Tomasello: 2000; 2003; Newmeyer: 2005). Zudem<br />

konnte eine Korrelation verschiedener grammatischer Eigenschaften mit einem Parameter<br />

nicht nachgewiesen werden. Genaueres hierzu findet sich im Abschnitt 11.4.<br />

Chomsky (2008, 135) zählt die Theorien im Rahmen des MPs zu den Prinzipien-und-<br />

Parameter-Ansätzen und verortet die Parameter im Lexikon. Die UG wird so definiert,<br />

dass sie auch nicht-sprachspezifische Bestandteile enthalten kann, die aber trotzdem genetisch<br />

determiniert sind (Chomsky: 2007, 7). Neben unbounded Merge und der Bedingung,<br />

dass von Grammatiken erzeugte Äußerungen die Beschränkungen der phonologischen und<br />

konzeptuell-intentionalen Schnittstellen erfüllen müssen, gehören Merkmale aus einem festen<br />

Repertoire zur UG (Chomsky: 2007, 6–7). Welche Merkmale das sind, wird nicht im<br />

Einzelnen ausgeführt, so bleibt die Mächtigkeit der UG im Vagen. Allerdings gibt es eine<br />

erfreuliche Konvergenz zwischen verschiedenen linguistischen Lagern, denn Chomsky<br />

(2010) nimmt nicht an, dass ganze Batterien funktionaler Projektionen, wie wir sie im Abschnitt<br />

3.6.1 gesehen haben, Bestandteil der UG sind. Da es immer noch Parameter gibt,<br />

sind die Argumente, die gegen GB-Ansätze des Spracherwerbs angeführt wurden, aber<br />

auch auf Spracherwerbstheorien im Minimalistischen Rahmen anwendbar. Zu einer ausführlicheren<br />

Diskussion von Spracherwerbsansätzen im Prinzipien-und-Parameter-Modell<br />

und von inputbasierten Ansätzen siehe Abschnitt 11.4.<br />

Für die sprachvergleichende Forschung bleibt das Prinzipien-und-Parameter-Modell<br />

natürlich weiterhin interessant. Man wird in jeder Theorie irgendwie erfassen müssen,<br />

dass das Verb im Englischen vor den Objekten und im Japanischen nach den Objekten<br />

steht. Diese Unterscheidung kann man Parameter nennen und Sprachen dann entsprechend<br />

klassifizieren. Dass das für den Spracherwerb in irgendeiner Form relevant ist, wird aber<br />

zunehmend in Frage gestellt.<br />

3.7.2 Formalisierung<br />

In seiner 1963 erschienenen Arbeit im Rahmen der Transformationsgrammatik schreibt<br />

Bierwisch:<br />

3.7 Zusammenfassung und Einordnung 107<br />

Es ist also sehr wohl möglich, daß mit den formulierten Regeln Sätze erzeugt werden<br />

können, die auch in einer nicht vorausgesehenen Weise aus der Menge der grammatisch<br />

richtigen Sätze herausfallen, die also durch Eigenschaften gegen die Grammatikalität<br />

verstoßen, die wir nicht wissentlich aus der Untersuchung ausgeschlossen<br />

haben. Das ist der Sinn der Feststellung, daß eine Grammatik eine Hypothese über<br />

die Struktur einer Sprache ist. Eine systematische Überprüfung der Implikationen<br />

einer für natürliche Sprachen angemessenen Grammatik ist sicherlich eine mit Hand<br />

nicht mehr zu bewältigende Aufgabe. Sie könnte vorgenommen werden, indem die<br />

Grammatik als Rechenprogramm in einem Elektronenrechner realisiert wird, so daß<br />

überprüft werden kann, in welchem Maße das Resultat von der zu beschreibenden<br />

Sprache abweicht. (Bierwisch: 1963, 163)<br />

Bierwischs Aussage kann man nur zustimmen, zumal auch in den vergangenen Jahrzehnten<br />

große Fortschritte in der Empirie gemacht wurden. So hat z. B. Ross (1967) Beschränkungen<br />

für Umstellungen und Fernabhängigkeiten gefunden, in den 70ern wurden von<br />

Perlmutter (1978) die unakkusativischen Verben entdeckt. Zum Deutschen siehe Grewendorf:<br />

1989; Fanselow: 1992a. Neben Analysen für diese Phänomene wurden Beschränkungen<br />

für mögliche Konstituentenstellungen erarbeitet (Lenerz: 1977), Analysen für die Kasusvergabe<br />

(Yip, Maling und Jackendoff: 1987; Meurers: 1999c; Przepiórkowski: 1999b)<br />

und Theorien über die Beschaffenheit von Verbalkomplexen und die Voranstellung von<br />

Phrasenteilen entwickelt (Evers: 1975; Grewendorf: 1988; Hinrichs und Nakazawa: 1994;<br />

Kiss: 1995; G. Müller: 1998; Meurers: 1999b; Müller: 1999a; 2002; De Kuthy: 2002).<br />

Alle diese Phänomene interagieren!<br />

Hierzu noch ein weiteres Zitat:<br />

A goal of earlier linguistic work, and one that is still a central goal of the linguistic<br />

work that goes on in computational linguistics, is to develop grammars that assign a<br />

reasonable syntactic structure to every sentence of English, or as nearly every sentence<br />

as possible. This is not a goal that is currently much in fashion in theoretical<br />

linguistics. Especially in Government-Binding theory (GB), the development of large<br />

fragments has long since been abandoned in favor of the pursuit of deep principles<br />

of grammar. The scope of the problem of identifying the correct parse cannot be appreciated<br />

by examining behavior on small fragments, however deeply analyzed. Large<br />

fragments are not just small fragments several times over—there is a qualitative<br />

change when one begins studying large fragments. As the range of constructions that<br />

the grammar accommodates increases, the number of undesired parses for sentences<br />

increases dramatically. (Abney: 1996, 20)<br />

Hinzu kommt, dass das Ziel ist, Beschränkungen zu formulieren, die möglichst für alle<br />

Sprachen, zumindest aber für Sprachklassen Gültigkeit haben. Daraus ergibt sich, dass<br />

man die Interaktion verschiedener Phänomene nicht nur in einer Sprache, sondern in mehreren<br />

Sprachen gleichzeitig überblicken muss. Diese Aufgabe ist von einer solchen Komplexität,<br />

dass sie einzelne Menschen auf keinen Fall mehr leisten können. Hier sind Computerimplementationen<br />

sehr hilfreich, da Inkonsistenzen in der Theorie sofort zu Tage<br />

treten. Nach Beseitigung etwaiger Inkonsistenzen in der Theorie lassen sich Computerimplementationen<br />

dazu verwenden, systematisch angelegte Testsatzsammlungen oder große<br />

Korpora zu analysieren und damit die empirische Adäquatheit der Theorie festzustellen

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