Grammatiktheorie - German Grammar Group FU Berlin - Freie ...
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104 3 Transformationsgrammatik – Government & Binding<br />
20) schlägt ebenfalls einen Argumentkompositionsansatz in einem anderen Bereich der<br />
Syntax vor, so dass es in seiner Theorie beide Tools gibt: Restbewegung und Argumentanziehung.<br />
Eine Theorie, die mit weniger Annahmen auskommt, ist anderen vorzuziehen.<br />
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen MG und HPSG besteht darin, dass das<br />
Head-Filler-Schema nicht das einzige Schema für die Analyse von Fernabhängigkeiten<br />
ist. Wie in Fußnote 24 auf Seite 89 angemerkt, gibt es neben der Voranstellung von Konstituenten<br />
auch noch Herausstellungen nach rechts (Extraposition). Diese sind zwar auch<br />
als Fernabhängigkeiten zu analysieren, verhalten sich aber in wesentlichen Punkten anders<br />
(siehe Abschnitt 11.1.1.5). Zu Analysen der Extraposition im Rahmen der HPSG<br />
siehe Keller: 1995; Bouma: 1996, Müller: 1999a, Kapitel 13.<br />
Außer diesem weiteren Schema für Fernabhängigkeiten gibt es in der HPSG natürlich<br />
auch noch andere Schemata, die es in Stablers MG und im Minimalismus allgemein<br />
nicht gibt. Es handelt sich bei diesen Schemata um Schemata, die Konstruktionen ohne<br />
Kopf beschreiben bzw. solche, die nötig sind, um Distributionseigenschaften von Konstruktionsbestandteilen<br />
zu beschreiben, die sich nicht sinnvoll in lexikalischen Analysen<br />
erfassen lassen (z. B. die Distribution von wh- und Relativpronomina). Siehe hierzu Abschnitt<br />
11.11.9.<br />
In einem Vortrag hat Chomsky (2010) die Merge-basierte Analyse der Hilfsverbumstellung<br />
mit der Analyse in der HPSG verglichen und kritisiert, dass man in HPSG zehn Schemata<br />
brauche. Ginzburg und Sag (2000) unterscheiden drei Arten von Konstruktionen mit<br />
umgestellten Hilfsverben: invertierte Sätze, wie sie in Konstruktionen mit vorangestelltem<br />
Adverbiale und in wh-Fragen vorkommen (79a,b), invertierte Exklamativsätze (79c) und<br />
polare Interrogativsätze (79d):<br />
(79) a. Under no circumstances did she think they would do that.<br />
b. Whose book are you reading?<br />
c. Am I tired!<br />
d. Did Kim leave?<br />
Fillmore (1999) erfasst in seiner konstruktionsgrammatischen Analyse der Hilfsverbumstellung<br />
viele verschiedene Verwendungskontexte und zeigt, dass es semantische und pragmatische<br />
Unterschiede gibt. Diese muss jede Theorie erfassen. Dazu braucht man nicht<br />
unbedingt zehn Schemata, man kann das auch – wie die Kategorialgrammatik – am Lexikoneintrag<br />
für das Hilfsverb (siehe Abschnitt 11.11 zu einer allgemeinen Diskussion lexikalischer<br />
und phrasaler Analysen) oder an einem leeren Kopf festmachen. In jedem Fall<br />
muss jede Theorie die zehn Unterschiede irgendwo repräsentieren. Wenn man behaupten<br />
will, dass diese Unterschiede mit Syntax nichts zu tun haben, muss man sie dann trotzdem<br />
in der Semantikkomponente modellieren. Das heißt, an dieser Stelle gibt es keinen Grund<br />
eine der Theorien einer anderen vorzuziehen.<br />
3.6.5 Zusammenfassung<br />
Zusammenfassend kann man sagen, dass die computationellen Mechanismen des Minimalistischen<br />
Programms (z. B. transderivationelle Beschränkungen und Auswahl von Numerationen)<br />
und die Theorie der merkmalsgesteuerten Bewegung problematisch sind und<br />
die Annahme der leeren funktionalen Kategorien mitunter ad hoc. Wenn man nicht davon<br />
ausgehen kann, dass diese Kategorien allen Grammatiken aller Sprachen gemein sind,<br />
3.7 Zusammenfassung und Einordnung 105<br />
dann stellt die Verwendung von nur zwei Mechanismen (Move und Merge) keine Vereinfachung<br />
des Gesamtsystems der Grammatik dar, denn jede einzelne funktionale Kategorie,<br />
die stipuliert werden muss, ist eine Verkomplizierung des Gesamtsystems.<br />
Die Labeling-Mechanismen sind nicht ausreichend ausgearbeitet und sollten einfach<br />
durch die der Kategorialgrammatik ersetzt werden.<br />
3.7 Zusammenfassung und Einordnung<br />
Arbeiten im Rahmen von GB/MP haben sowohl in der einzelsprachlich orientierten als<br />
auch in der sprachübergreifenden Forschung zu einer Fülle neuer Erkenntnisse geführt. Im<br />
Folgenden möchte ich nur einige Gebiete der deutschen Syntax hervorheben.<br />
Die Verbbewegungsanalyse, die im Rahmen der Transformationsgrammatik von Bierwisch<br />
(1963, 34), Reis (1974), Koster (1975), Thiersch (1978, Kapitel 1) und den Besten<br />
(1983) entwickelt wurde, ist heute praktisch Standard in allen Grammatikmodellen (wahrscheinlich<br />
mit Ausnahme der Konstruktionsgrammatik). Lenerz’ Arbeiten zur Konstituentenstellung<br />
(1977) haben die Analysen in anderen Frameworks beeinflusst (die Linearisierungsregeln<br />
in GPSG und HPSG gehen auf Lenerz’ Beschreibungen zurück), Haiders<br />
Arbeiten zu Konstituentenstellung, Kasus und Passiv (1984; 1985b; 1985a; 1986a; 1990b;<br />
1993) haben die LFG- und HPSG-Arbeiten zum Deutschen stark beeinflusst. Die gesamte<br />
Konfigurationalitätsdiskussion, d. h. die Diskussion der Frage, ob es im Deutschen sinnvoll<br />
ist, das Subjekt finiter Verben innerhalb der VP oder außerhalb der VP zu verorten,<br />
war wichtig (z. B. Haider: 1982; Grewendorf: 1983; Kratzer: 1984; Webelhuth: 1985; Sternefeld:<br />
1985b; Scherpenisse: 1986; Fanselow: 1987; Grewendorf: 1988; Dürscheid: 1989;<br />
Webelhuth: 1990; Oppenrieder: 1991; Wilder: 1991; Haider: 1993; Grewendorf: 1993;<br />
Frey: 1993; Lenerz: 1994; Meinunger: 2000) und auch die unakkusativischen Verben wurden<br />
für das Deutsche zuerst in GB-Kreisen ausführlich besprochen (Grewendorf: 1989;<br />
Fanselow: 1992a). Die Arbeiten von Fanselow und Frey zur Konstituentenstellung insbesondere<br />
im Verhältnis zur Informationsstruktur haben die deutsche Syntax ebenfalls<br />
ein großes Stück vorangebracht (Fanselow: 1988; 1990; 1993; 2000a; 2001; 2003b;c;<br />
2004; Frey: 2000; 2001; 2004a; 2005). Infinitivkonstruktionen, komplexe Prädikate und<br />
Teilvoranstellungen wurden ebenfalls im GB/MP-Rahmen detailliert und erfolgreich erforscht<br />
(Bierwisch: 1963; Evers: 1975; Haider: 1982; 1986b; 1990a; 1991; 1993; Grewendorf:<br />
1983; 1987; 1988; den Besten: 1985; Sternefeld: 1985b; Fanselow: 1987; 2002; von<br />
Stechow und Sternefeld: 1988; Bayer und Kornfilt: 1989, G. Müller: 1996a; 1998; Vogel<br />
und Steinbach: 1998). Im Bereich der sekundären Prädikation sticht die Arbeit von Susanne<br />
Winkler (1997) heraus.<br />
Diese Auflistung von Arbeiten aus Teilbereichen der Grammatik ist einigermaßen willkürlich<br />
(sie entspricht Teilen meiner eigenen Forschungsinteressen) und auch auf das<br />
Deutsche bezogen. Natürlich gibt es auch eine Fülle von Artikeln zu anderen Sprachen<br />
und anderen Phänomenen, die hier aber nur als Gesamtheit ohne Erwähnung einzelner<br />
Aufsätze gewürdigt werden können.<br />
Im folgenden Abschnitt sollen noch zwei Punkte kritisch angesprochen werden: das<br />
Spracherwerbsmodell der Prinzipien und Parametertheorie und der Grad der Formalisierung<br />
innerhalb der Chomskyschen Linguistik insbesondere innerhalb der letzten Jahrzehnte<br />
und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Einige dieser Punkte werden im Kapitel<br />
11 dann noch einmal aufgegriffen.