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Grammatiktheorie - German Grammar Group FU Berlin - Freie ...

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338 11 Diskussion<br />

VP unabhängig von anderen Beschränkungen arbeiten. Wie Crain und Steedman (1985)<br />

und andere jedoch gezeigt haben, gibt es Daten, die diese Erklärung wenig plausibel erscheinen<br />

lassen: Wenn man (95a) in einem entsprechenden Kontext äußert, läuft der Parser<br />

nicht in die Irre. In (98) wird über mehrere Pferde gesprochen und jeweils durch einen<br />

Relativsatz für die Eindeutigkeit der NP gesorgt. Der Hörer ist somit quasi auf einen Relativsatz<br />

vorbereitet und kann auch den reduzierten Relativsatz verarbeiten, ohne auf den<br />

Holzweg zu geraten.<br />

(98) The horse that they raced around the track held up fine. The horse that was raced<br />

down the road faltered a bit. And the horse raced past the barn fell.<br />

Man kann (95a) durch Austausch lexikalischen Materials auch so verändern, dass man<br />

für die problemlose Verarbeitung keinen zusätzlichen Kontext braucht. Dazu muss man<br />

das Material so wählen, dass eine Interpretation des Nomens als Subjekt des Verbs im<br />

reduzierten Relativsatz ausgeschlossen ist. So handelt es sich bei evidence in (99) um ein<br />

Nomen, das auf etwas Unbelebtes referiert. Es kommt also nicht als handelndes Argument<br />

von examined in Frage. Die entsprechende Hypothese wird bei der Verarbeitung des Satzes<br />

gar nicht erst aufgestellt (Sag und Wasow: erscheint).<br />

(99) The evidence examined by the judge turned out to be unreliable.<br />

Daraus, dass die Verarbeitung inkrementell erfolgt, wurde mitunter geschlossen, dass realistische<br />

Grammatiken bereits gehörtem Material auch sofort eine Konstituentenstruktur<br />

zuweisen müssen (Ades und Steedman: 1982; Hausser: 1992). Für den folgenden Satz<br />

nehmen die Verfechter solcher Analysen eine Struktur an, in der jedes Wort mit dem vorangegangenen<br />

Material eine Konstituente bildet:<br />

(100) [[[[[[[[[[[[[[Das britische] Finanzministerium] stellt] dem] angeschlagenen] Bankensystem]<br />

des] Landes] mindestens] 200] Milliarden] Pfund] zur] Verfügung].<br />

Pulman (1985), Stabler (1991) und Shieber und Johnson (1993, 301–308) haben jedoch<br />

gezeigt, dass man auch mit Phrasenstrukturgrammatiken der Art, wie wir sie in Kapitel 2<br />

kennengelernt haben, inkrementell semantische Strukturen aufbauen kann. Das heißt, man<br />

kann eine partielle semantische Repräsentation für die Wortfolge das britische errechnen,<br />

ohne dass man annehmen muss, dass diese beiden Wörter in (100) eine Konstituente bilden.<br />

Man braucht also nicht unbedingt eine Grammatik, die die unmittelbare Kombination<br />

von Wörtern direkt lizenziert. Shieber und Johnson: 1993 weisen außerdem darauf hin,<br />

dass rein technisch betrachtet eine synchrone Verarbeitung teurer ist als eine asynchrone,<br />

da die synchrone zusätzliche Mechanismen zur Synchronisation benötigt, wohingegen<br />

die asynchrone Verarbeitung Information in die Verarbeitung einbezieht, sobald diese zur<br />

Verfügung steht (S. 297–298). Ob das auch für die synchrone/asynchrone Verarbeitung<br />

syntaktischer und semantischer Information gilt, lassen Shieber und Johnson offen. Siehe<br />

auch Shieber und Johnson: 1993 zur inkrementellen Verarbeitung und zu einem Vergleich<br />

von Steedmans Kategorialgrammatik und TAG.<br />

Welche Rückschlüsse kann man aus den bereits diskutierten Daten ziehen? Gibt es weitere<br />

Daten, die helfen, Eigenschaften festzulegen, die <strong>Grammatiktheorie</strong>n haben müssen,<br />

um als psycholinguistisch plausibel gelten zu können? Sag, Wasow und Bender (2003) und<br />

Sag und Wasow (erscheint) geben folgende Eigenschaften an, die performanzkompatible<br />

11.3 Kompetenz/Performanz-Unterscheidung 339<br />

Kompetenzgrammatiken haben sollten: 50<br />

• oberflächenorientiert<br />

• modelltheoretisch und deshalb beschränkungsbasiert<br />

• stark lexikalistisch<br />

Ansätze wie CG, GPSG, LFG, HPSG, CxG und TAG sind oberflächennah, da sie keine<br />

Grundstruktur annehmen, aus der mittels Transformationen andere Strukturen abgeleitet<br />

sind. Transformationelle Ansätze brauchen jedoch zusätzliche Annahmen. 51 Das soll im<br />

Folgenden kurz erläutert werden. Im Abschnitt 3.1.8 haben wir folgende Analyse für englische<br />

Fragesätze kennengelernt:<br />

(101) [CP Whati [ C ′ willk [IP Ann [ I ′ _k [VP read _i]]]]].<br />

Diese Struktur ist mittels zweier Transformationen (zweier Anwendungen von move α)<br />

aus (102a) abgeleitet:<br />

(102) a. Ann will read what?<br />

b. * Will Ann read what.<br />

Die erste Transformation erzeugt aus (102a) die Abfolge in (102b), die zweite aus (102b)<br />

dann die Abfolge in (101).<br />

Wenn ein Hörer den Satz in (101) verarbeitet, beginnt er mit dem Strukturaufbau, sobald<br />

er das erste Wort gehört hat. Transformationen kann er aber erst durchführen, wenn<br />

er die gesamte Äußerung gehört hat. Man kann natürlich annehmen, dass Hörer Oberflächenstrukturen<br />

verarbeiten. Da sie – wie wir gesehen haben – bereits früh innerhalb einer<br />

Äußerung auf semantisches Wissen zugreifen, stellt sich die Frage, wozu man die Tiefenstruktur<br />

überhaupt noch braucht. In Analysen wie der von (101) ist die Tiefenstruktur<br />

überflüssig, da die entsprechende Information aus den Spuren rekonstruierbar ist. Entsprechende<br />

Varianten von GB wurden in der Literatur vorgeschlagen (siehe Seite 112). Sie sind<br />

auch mit der Forderung nach Oberflächennähe kompatibel. Chomsky (1981a, 181; 1986a,<br />

49) und Lasnik und Saito (1992, 59–60) vertreten Analysen, in denen Spuren gelöscht<br />

werden können. In solchen Analysen ist die Tiefenstruktur nicht direkt aus der Oberflächenstruktur<br />

rekonstruierbar, und man braucht Transformationen, um Tiefenstruktur und<br />

50 Siehe auch Jackendoff: 2007 für Überlegungen zu einem Performanzmodell für eine beschränkungsbasierte,<br />

oberflächennahe linguistische Theorie.<br />

51 Eine Ausnahme unter den transformationellen Ansätzen stellt Phillips: 2003 dar. Phillips nimmt an, dass<br />

inkrementell Strukturen aufgebaut werden, die für Phänomene wie Ellipse, Koordination und Voranstellung<br />

relevant sind. Diese Konstituenten können dann in weiteren Schritten durch Transformationen umgebaut<br />

werden. Zum Beispiel bildet bei der Analyse von (i) die Wortfolge Wallace saw Gromit in eine Konstituente,<br />

in der in durch einen Knoten mit der Bezeichnung P(P) dominiert wird. Dieser Knoten wird dann im<br />

folgenden Schritt zu einer PP umgebaut (S. 43–44).<br />

(i) Wallace saw Gromit in the kitchen.<br />

Bei diesem Ansatz handelt es sich zwar um einen transformationsbasierten Ansatz, die Art der Transformation<br />

ist aber sehr idiosynkratisch und mit anderen Theorievarianten inkompatibel. Insbesondere widerspricht<br />

der Umbau von Konstituenten der Annahme von Strukturerhaltung bei Anwendung von Transformationen<br />

bzw. der No Tampering Condition von Chomsky (2008). Außerdem sind die Bedingungen dafür, wann eine<br />

unvollständige Wortfolge wie Wallace saw Gromit in eine Konstituente bildet, nicht genau ausgearbeitet.

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