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Staat? Solche Fragen werden in Argentinien zur Zeit nicht in kleinen<br />

Zirkeln und Hinterzimmern diskutiert, sondern auf der Straße. Allein in<br />

der Hauptstadt soll es etwa 140 asambleas barriales (Nachbarschaftsversammlungen)<br />

geben. Die Beteiligung ist im Laufe der Monate zurückgegangen,<br />

aber es gibt einen Kern von etwa 8000 Leuten, die jede Woche<br />

verschiedenste Themen von den eigenen Belangen bis zur großen Politik<br />

diskutieren (und wesentlich mehr Leute, die immer wieder bereit sind, auf<br />

die Straße zu gehen). Traditionelle Politik und Vertretung, und alles, was<br />

irgendwie danach aussieht, wird rigoros abgelehnt. Stattdessen probieren<br />

die Leute aus, wie denn eine wirkliche Basisdemokratie aussehen könnte.<br />

Viele Normen und gesellschaftliche Benimmregeln sind zusammengebrochen.<br />

Wer hätte schon gedacht, seine biedere Nachbarin mit dem<br />

Kleistereimer in der Hand Plakate gegen die Preiserhöhungen an den<br />

Supermarkt kleben zu sehen, oder den elegant gekleideten Innenstadtmenschen,<br />

der mit dem Kochtopf auf die Blechfassade einprügelt, hinter der<br />

sich neuerdings fast alle Banken verstecken? Mich hat immer wieder die<br />

Selbstverständlichkeit beeindruckt, mit der die Leute Straßen, Plätze und<br />

öffentliche Orte erobern. Ein massenhaftes und alltägliches ’Reclaim the<br />

Streets’ − ohne das so zu nennen oder viel Aufhebens drum zu machen.<br />

Viele asambleas finden auf Straßenkreuzungen statt und leiten dafür<br />

stundenlang den Verkehr um. Auch kleine Demonstrationen und Kundgebungen<br />

bleiben nicht auf den Bürgersteigen, sondern nehmen sich mindestens<br />

einen Teil der Straße. Bei Demonstrationen, an denen piqueter@s<br />

beteiligt sind, übernehmen diese die Verkehrsregelung und den Schutz der<br />

Demo: am Anfang und am Ende geht je eine geschlossene Reihe mit<br />

Knüppeln, die sich auch an jeder Straßenkreuzung postieren, damit erst<br />

gar kein Autofahrer auf die Idee kommt, in die Demo reinzufahren.<br />

Die Aktionsform der Straßenblockade, von den piqueter@s eingeführt,<br />

ist zum Allgemeingut geworden. Ob das arme Familien in den<br />

Außenvierteln sind, denen die kostenlosen Milchrationen für die Kinder<br />

gestrichen wurden, oder ein paar Kindergärtnerinnen samt Eltern und<br />

Kindern, die gegen fehlende Putzmittel und befristete Verträge demonstrieren<br />

− alle finden es völlig normal, zur Hauptverkehrszeit mehrspurige<br />

Straßen zu sperren. »Was sollen wir denn sonst machen, ein Jahr lang<br />

haben wir Eingaben gemacht, und keiner hat auf uns gehört − nach der<br />

ersten Blockade letzte Woche ist immerhin schonmal einer von der Stadt<br />

vorbeigekommen, um sich die Zustände hier im Kindergarten anzusehen«.<br />

Juli 2002 5

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