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Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

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Tochter nachts ein Tier in ihrer Nähe, aber diesmal den Vielfraß. Und auch diesmal blieb jede<br />

Überprüfung ergebnislos. Die Tochter erzählte ihrer Mutter von ihren sonderbaren nächtlichen<br />

Besuchern und diese erinnerte sich daran, daß man in ihrer Heimat mit Wildbret um die Braut<br />

warb, das man vor die Tür des Elternhauses der Auserwählten legte. Nahmen die Eltern das<br />

Wildbret an, dann galt die Vermählung der Tochter mit seinem Jäger als abgemacht.<br />

Kurze Zeit später erschien gegen Abend ein junger Mann, der in Wolfspelz gekleidet war, bei<br />

den Eltern des Mädchens, welche ihn zum Bleiben einluden. Während der Mahlzeit erschien ein<br />

zweiter junger Mann, das Fell seiner Kleidung war vom Vielfraß. Kaum hatte sich der zweite<br />

Mann dazugesetzt, da redete er auf den ersten Besucher ein: "Du wolltest mir zwar die Braut<br />

wegnehmen, aber das wird dir nicht gelingen", und setzte seine Rede mit Beschimpfungen fort,<br />

die der andere seinerseits mit Beleidigungen beantwortete, so daß ein Streit anfing, der vom<br />

Gastgeber mit dem Hinweis auf das Gastrecht unterbrochen wurde, das auch das Verhalten der<br />

Gastfreundschaftsnehmer regelt. "Wenn ihr Euch unbedingt streiten müßt", sagte der Vater,<br />

"dann streitet Euch draußen, aber nicht in meinem Haus!" Die beiden Männer gingen nach<br />

draußen und schlugen sich dermaßen, daß niemand von der Familie es auch nur wagte, nach<br />

draußen zu sehen. Sie kämpften bis zum Morgengrauen und waren dann verschwunden. Die<br />

Tochter ging vor das Haus und sah die Spuren eines gewaltigen Kampfes: viel Blut lag auf dem<br />

Boden, aber sonst konnte sie nur die Spuren eines Wolfes und eines Vielfraßes entdecken. Sie<br />

folgte den Spuren und fand den toten Kadaver eines Vielfraßes. Dann kehrte sie zurück und<br />

man ging wieder den üblichen Verrichtungen des Alltags nach. Es vergingen ein paar Tage, da<br />

stand ein älterer Mann, gekleidet in Wolfspelz, vor der Tür des Hauses und bat die Eltern, daß<br />

sie ihm die Tochter für seinen Sohn mitgeben sollten, weil jener zuhause im Sterben liege.<br />

Nachdem er versprochen hatte, die Tochter gesund wieder zurückzubringen, ließen die Eltern<br />

ihn mit der Tochter ziehen. Im Lager des Wolfsmannes pflegte die Tochter den Wolfssohn, der<br />

wieder zu Kräften kam und sie zu seiner Frau nahm. Nachdem sie eine Zeit glücklich waren,<br />

erinnerte der Wolfsvater seinen Sohn an das Versprechen, die Tochter gesund zu ihren Eltern<br />

zurückzubringen. Das Paar machte sich also auf und kehrte zu den Eltern der Braut zurück.<br />

Der Vater freute sich über die Hilfe des Schwiegersohns, der sie so reichlich mit Karibufleisch<br />

versorgte, daß man es gar nicht aufzuessen vermochte. Aber immer, wenn der Schwiegersohn<br />

auf Robbenjagd ging, kam er ohne Beute zurück. Endlich verwandelten sich Schwiegersohn<br />

und Tochter in Wölfe, weil die Eltern neugierig das Jagdtabu des Karibujägers brachen und ihn<br />

bei der Jagd beobachteten.<br />

Krieg Beute Beute Feindschaft<br />

Mensch Tochter Karibu Wolf<br />

Robbe Vielfraß<br />

Kontrakt Gabe Gabe Freundschaft<br />

7<br />

3<br />

Die Erzählung stellt Mensch, Wolf und<br />

Vielfraß in die Reihe der Jäger, der Konkurrenten,<br />

sie zeichnet den Wolf als Karibujäger,<br />

den Vielfraß als Robbenjäger,<br />

aber den Menschen als nicht spezialisierten<br />

Jäger. Die Brautgabe bringt den Wolf und das Karibu sowie den Vielfraß und die Robbe in die<br />

Beziehung von Jäger und Beute und unterstreicht dieses Verhältnis noch einmal, indem sie auf<br />

die Mißgeschicke des Kraibujägers bei der Robbenjagd hinweist.<br />

Im Zustand der sozialen Beziehungen erscheint die Beute als Gabe, als Medium der Fortsetzung<br />

oder der Einrichtung solidarischer Beziehungen, während das, was im sozialen Verkehr in<br />

der Funktion der Gabe erscheint, im Stande der Feindschaft zur Beute des Feindes wird, die<br />

nur durch Rache gesühnt werden kann. Tochter, Karibu und Robbe erscheinen sowohl als Gegenstand<br />

von Verhandlungen als auch als Anlässe des Streites, der jenen Zustand anzeigt, den<br />

der Vertrag zu schlichten sucht.<br />

Die Begegnung von Mensch und Tier und die zwischen den Exemplaren verschiedener<br />

Tierarten findet auch hier in dieser mythischen Erzählung in der verwandelten menschlichen<br />

Gestalt statt, die auch in dieser Geschichte das soziale, vertragliche Verhalten konnotiert. Auch<br />

hier kann das Tier seine artspezifische Isolation nur in der Gestalt des Menschen und d.h. mit<br />

der Absicht der Herstellung einer solidarischen Beziehung, eingeleitet durch die Brautgabe und

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