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Totemismus Illusion - Horst Südkamp - Kulturhistorische Studien

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Ein natürliches Kategoriensystem vermag alles Seiende, das in seiner Weltanschauung von<br />

Bedeutung ist, auch zu benennen und zu begreifen, also auch soziale Gruppen; und dieses<br />

Vermögen besitzt es auch dann, wenn es nur zur Differenzierung ritueller oder kultischer<br />

Gruppen gebraucht wird. Seine Restriktion auf ganz bestimmte Seinsbereiche ist davon ganz<br />

unbenommen, sie ist jedenfalls nicht begründet durch den Gebrauch natürlicher Kategorien.<br />

Wenn also eine Wilbeuter-Gesellschaft, die sich ihre Welt in natürlichen Kategorien vorstellt<br />

und die noch keine unilinearen Abstammungsgruppen mit festen Allianzbeziehungen ausgebildet<br />

hat, ein Sippen- oder Clan-System ausbildet, dann ist es durchaus nicht verwunderlich,<br />

daß sie diese Veränderung ihrer Sozialstruktur in den Kategorien ihrer Weltanschauung reflektiert.<br />

Dabei genügt sie solange keinem religiösen Bedürfnis, wie diese sozialen Gruppen<br />

und deren Beziehungen keinen rituellen Verpflichtungen unterliegen. Die Bezeichnung sozialer<br />

Gruppen mit natürlichen Kategorien steht also nicht notwendigerweise in einem Prozeß der<br />

Säkularisierung, sondern nur dann, wenn diese Gruppen ursprünglich rituelle Pflichten zu<br />

erfüllen hatten, die ihnen dann von anderen Instanzen abgenommen wurden. Wir haben es also<br />

Fall für Fall mit jeweils bestimmten Gebräuchen zu tun, die man grundsätzlich nicht auf den<br />

Gebrauch natürlicher Kategorien zurückführen kann. Wenn das stimmt, dann stellt sich die<br />

Frage, ob es je ein Denken in natürlichen Kategorien oder wie Levi-Strauss es auch nennt, ein<br />

„wildes Denken“, jenseits einer religiös begründeten Kosmologie oder Weltanschauung<br />

gegeben hat. Man wird also nicht bloß formal fragen dürfen, ob ein Denken in natürlichen<br />

Kategorien außerhalb einer religiösen Weltanschauung denkbar ist, denn das wird theoretisch<br />

wohl denkbar sein, sondern muß diese Frage historisch stellen, und zwar: ob es überhaupt ein<br />

Denken in natürlichen Kategorien außerhalb eines religiösen Systems gegeben hat.<br />

Die Konstellation, die Radcliffe-Brown und nach ihm (neben anderen) Baumann gezeichnet<br />

haben, wollte Levi-Strauss als eine Fiktion der Völkerkunde der Jahrhundertwende auflösen,<br />

als die Fiktion der Naturvölker, welcher die Aufgabe zugedacht war, den Gegensatz der<br />

Wilden und der Zivilisierten bis zur Behauptung ihrer Unüberbrückbarkeit zu überzeichnen.<br />

Aber in dem Maße, wie Levi-Strauss den Graben, der so gezogen worden ist, mit dem Hinweis<br />

auf die Universalität des Geistes und seiner Präsenz in allem Menschlichen überbrückt hat,<br />

führte er die gleiche Differenzierung ein, nur um ihr eine andere Funktion zuzuweisen: durch<br />

seine Unterscheidung der zwei Wissenschaften, deren eine immer mit der Erfahrung eng<br />

verbunden, in Bildern oder mit Vorstellungen denkt (die Wahrheit des Gleichnisses), und deren<br />

andere erst Wissenschaft ist, wenn sie sich von jeder Anschauung frei gemacht hat und auf der<br />

Grundlage der von ihr selbst axiomatisch erzeugten Konstruktionen operiert, hat er den Unterschied,<br />

der im Spektrum evolutionärer Hypothesen einen Abstand markiert hat, in einen Unterschied<br />

verwandelt, der im Menschen immer gleichzeitig präsent ist und der jenen absoluten<br />

Abstand in Raum und Zeit, den der Evolutionismus postuliert, relativiert und überwindet, weil<br />

er zwei Methoden des Denkens ausweist, auf die der Mensch zu keiner Zeit und in keiner<br />

Kultur verzichten kann. Jetzt ist dieser Gegensatz nicht mehr ein historischer, sondern ein dem<br />

Menschen immanenter, jetzt praktiziert der Zivilisierte ebenso das "Wilde Denken" wie der<br />

"Wilde" Formen der Wissenschaft kennt, mit der sich die Zivilisation identifiziert, weil beide<br />

Menschen sind und beide den Strukturen desselben Geistes genügen, der sich nur in<br />

verschiedenen Systemen selbst manifestiert. Levi-Strauss insistiert damit auf einem Grundsatz<br />

der historischen Forschung, den Bernheim an den Anfang seiner Einleitung in die Geschichtswissenschaft<br />

gestellt hat: "Zunächst muß die Anschauung von der Einheitlichkeit des<br />

menschlichen Wesens vorhanden sein, denn nur ein einheitlich Angeschautes kann man sich zusammenhängend<br />

entwickeln denken." 160<br />

Wird so der absolute Unterschied zwischen dem Wilden und dem Zivilisierten in der Voraussetzung<br />

der gemeinsamen Struktur des Geistes aufgehoben, wird das Denken des Wilden als<br />

ein durch die Erfahrung bestimmtes Denken als eine Option des Zivilisierten vorgeführt und<br />

160 E.Bernheim, Einleitung in die Geschichtswissenschaft, Leipzig, Berlin 1912, S.11<br />

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