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c't magazin für computer technik 15 vom 1.7.2013 - since

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Illustration: Susanne Wustmann, DortmundSie kamen, um Sarina zu holen, und ichbesaß kein probates Mittel, um sie aufzuhalten.Sarina war ein Humex, ein Falschmensch.Aber das war nur ein Teil der Wahrheit.Was sie wirklich war – eine junge Fraumit all ihren Hoffnungen, Wünschen undÄngsten –, wurde von ihren Feinden wie Verehrerngleichermaßen verschwiegen, dennes spielte für den Hass der einen und für dieSympathie der anderen nur eine untergeordneteRolle. Nicht aber für mich.Sie war der erste halbkünstliche Menschder Welt, und ich liebte sie. Sie war Klaus Kelvin-BirdsMeisterwerk. Kelvin-Bird war fürviele der Inbegriff des alten amerikanischenTraums gewesen – zu einer Zeit, als dieserlängst aufgehört hatte zu existieren.Es war allein Birds Ehrgeiz und seinem brillantenVerstand zu verdanken, dass er estrotz Einwandererkindheit bis auf die BrownUniversity in Providence, Rhode Island, geschaffthatte, um eine jener unvorstellbarenKoryphäen zu werden, die in den dunklenForschungshöhlen der DARPA an der Verschmelzungmenschlicher und künstlicherDNA arbeiteten. Ihr Ziel war es, einen genetischerweiterten Hybrid-Soldaten zu erschaffen.Doch seine erste Schöpfung war merkwürdigerweiseein Mädchen gewesen, ungeeignetfür die Interessen der Militärs.Ihr Name war Sarina, eine analog-digitaleChimäre, die nach dem Willen einflussreicherMänner vernichtet und aus den Akten getilgtwerden musste. Als Kelvin-Bird von dieserAbsicht erfuhr, verließ er kurzerhand mitdem Kleinkind, einem Sack gefälschter Reisepapiereund einem Dutzend Kreditkarten imGepäck die verbliebenen 47 Staaten der USAund versuchte sein Glück im VereintenEuropa, ohne dabei zu ahnen, dass er kurzdarauf an Krebs erkranken, sterben und dasKind einem vollkommen ungewissen Schicksalin der Obhut eines totalitären Regimesüberlassen würde.Für die europäischen Wissenschaftler,deren Mündel Sarina nach Kelvin-Birds Todwurde, war es jedoch ein Glücksfall und baldschon wurde sie Gegenstand vieler wissenschaftlicherPublikationen und Aufsätze.Doch es sollte noch viele Jahre dauern, ehesie wahre Berühmtheit erlangte.Im Alter von zweiundzwanzig Jahren beschlossSarina erstmals, an die Öffentlichkeitzu gehen und eine Ikone der Netzwelt zuwerden. Ihr Genom mit seinen einhundertachtzignatürlichen und zweihundertfünfzigkünstlich erweiterten Zelltypen bot dazugenug Kodierungsmöglichkeiten. Sie besuchtedie angesagtesten und berühmtesteneuropäischen Body-Modder und Biohackerin Camden Town, London, wo man überallentlang der High Street bis hinauf zum CamdenLock den süßlichen Duft der 3D-Körperdruckerfür künstliche Gliedmaßen riechenkonnte.Es gab schon bald keine Body Gadgets,BoGas, die sie nicht besaß, keine Body-Nano-I/Os, legal oder illegal, die ihr nicht implantiertworden wären, oder die sie nicht zumindestals selbst geschriebene Emulation oderals Virtualisierung getestet hätte. Sie trugnach kürzester Zeit sämtliche auf dem Marktverfügbaren Digitoos und Cyberskins und fürdie meisten Virtu-Citizens Europas war siebald die unangefochtene Königin der Netz-Boheme, eine wahre Jeanne d’Arc der posthumanenZukunft. Eine junge Frau, die esperfekt verstand, sanft, aber beharrlich gegendas herrschende Regime aufzubegehren.Meine erste Begegnung mit Sarina verdankteich Nora Weis, einer reichenund erfolgreichen Koblenzer Galeristin. Norahatte es vor langer Zeit mit ihrem Mann nachBozen verschlagen. Er, ein hochrangiger Diplomatund guter Freund meines Vaters,hatte beschlossen, sich in Südtirol zur Ruhezu setzen, war aber schon wenige Jahre späteran einer Hirnblutung verstorben.Vollkommen überraschend, mit einemnicht unerheblichen Erbe ausgestattet, erweiterteseine Witwe ihre bescheidene, eherals Hobby betriebene kleine Galerie inmittender Bozener Innenstadt zu einem großen, internationalgeachteten Umschlagplatz fürKunsthandel. Nachdem Nora erfahren hatte,dass auch ich für einige Semester in Bozenweilte, war es ihr sogleich eine Herzensangelegenheit,mich unter ihre Fittiche zu nehmenund zur nächsten Ausstellungseröffnungeinzuladen.„Du bist ein ansehnlicher Junge“, tadelte siemich. „Aber deine Augen sind umwölkt unddeine Mundwinkel haben bereits Furchen.“„Ich komme schon zurecht“, sagte ich.„Ich kenne da ein wunderbares Mädchen.Eine Kunststudentin von deiner Uni. Sie isteine Berühmtheit im Netz. Begehrt von allen.Eine wirklich außergewöhnliche Persönlichkeit.Du solltest sie kennenlernen.“Sari Kelvin-Bird war ihr Name.„Das ist die Kurzform für Sarina“, flöteteNora und deutete hinauf zu den oberstenStockwerken ihrer Galerie. „Es bedeutet Frieden.Ein gutes Omen für eine Romanze,meinst du nicht?“Ich verneinte, musste aber zugeben, dassmir der Name gefiel. Die Person, der ich dannwenig später im zweiten Stockwerk im bläulichenLicht der Bodenfluter begegnete, gefielmir noch viel mehr. Sie war groß, anmutig,ebenholzfarben wie eine Massai. Ich warihr sofort verfallen. Wie hypnotisiert trat ichzu ihr und musterte scheinbar das Werk, dassie konzentriert bestaunte. Doch das Bild interessiertemich herzlich wenig. Ich hatte nurAugen für Sarina.„Was siehst du?“, fragte sie, ohne mich genauerin Augenschein zu nehmen.Ich schluckte. Die Werke in diesem Raumstammten allesamt von Tillo-Tallo, dem vermeintlichgrößten Künstler der ersten Hälftedes 21. Jahrhunderts. Seine Werke waren,wie viele andere zeitgenössische Gemäldeauch, multidimensionale Holographien.„Sehr schön …“, erwiderte ich.„Sehr schön …?“, fragte sie. „Ist das … alles?“Sie warf mir einen kurzen, vernichtenden Blickzu. „Immanuel Kant hat einmal über die Kunstim Allgemeinen gesagt, Kategorien wie ‚schön’seien viel zu subjektiv und daher vollkommenirrelevant, um den Gehalt eines Kunstwerkeszu erfassen. Es sollte sich dem Betrachter dochwohl vielmehr die Frage nach der Sinnhaftigkeitund der Sinnlichkeit des Objekts stellen.“„Nun, ich … ich erkenne durchaus Sinnlichkeit,wenn ich sie sehe“, stotterte ich undwurde rot.„Nein, das tust du nicht“, gab sie zurück.„Noch nicht jedenfalls.“ Wenig später war siefort und ich kam mir vor wie ein Idiot.Ein anderes Mal hatte ich etwas mehrGlück. Es war ein x-beliebiger Augusttagim Jahr 2039, dem Jahr der europaweitenStudentenproteste. Über dem schwarzenelasto-viskosen Bitumen vor der Bozener Universitätflimmerte die Luft. Der Himmel warein wolkenloses Indigo. Die in weitem Abstandgepflanzten Linden rings um den Campuswiegten sich sanft im Wind außerhalb derriesigen Kunstglasscheiben, während einsichtlich erregter Professor Hollenstein im Audimaxüber die europäische Einheitsparteiund ihr tief verwurzeltes Miss trauen gegenüberder Universität als Hort quasi fehlgeleiteterMeinungsfreiheit dozierte.Ein durchdringendes, an- und abschwellendesHeulen unterbrach ihn mitten in seinenAusführungen. Wir wandten die Köpfeund starrten durch die riesige Glasscheibe insFreie. Studenten und Professoren, die draußenüber das Gelände flanierten, blieben stehenund blickten zum Himmel. Wir alle wussten,was die Sirenen zu bedeuten hatten.Viele von uns wollten die Aushöhlung derGrundrechte und die Inkraftsetzung vonweitreichenden Ermächtigungsgesetzen imVereinten Europa nicht länger stillschweigendhinnehmen und waren bereit, öffentlichWiderstand zu leisten. Ganze Universitätendrohten seit Wochen damit, das öffentlicheLeben lahmzulegen, doch niemand vonuns wusste genau, wann und ob es wirklichgeschehen würde. Die Einheitspartei in Brüsselnannte den geplanten studentischen Ungehorsamzwar Terrorismus, doch sie reagiertenicht darauf. Viele von uns wurden deshalbmutiger. Aber nun schien eine unsichtbareGrenze überschritten worden zu sein.Der blaue Himmel füllte sich innerhalb vonSekunden mit winzigen, schwarzen Käfern.c’t 2013, Heft <strong>15</strong>193

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