Experimentelle Psychologie
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Die Sprachentwicklung 263<br />
scheinen zuerst die Worte oder die Sätze? Der äußeren<br />
Form nach verwendet das Kind zuerst nur Worte, aber seine<br />
Worte haben den Sinn von Sätzen, und zwar verwendet es<br />
bis in die Mitte des zweiten Jahres mit bewunderungswür*<br />
diger Gleichförmigkeit nur Einwortsätze, wie „tul“<br />
(ich will<br />
auf den Stuhl); von da ab eine Zeitlang nur Zweiwortsätze,<br />
bis es dann zu den Mehrwortsätzen übergeht. Ganz ähnlich<br />
wird man sich die sprachlichen Anfänge der Menschheit zu<br />
denken haben, nur daß das Bedürfnis zur Dingbenennung<br />
ein größeres war. Wenn wir so den Satz an den Anfang der<br />
Entwicklung stellen, so bestimmen wir das Wesen des Satzes<br />
nicht nach der eigenartigen Gliederung in Subjekt und Prä*<br />
dikat, die er im weiteren Verlauf der Entwicklung gewinnt,<br />
sondern nach seiner Leistung, indem wir uns das Wort B ü h *<br />
lers zu eigen machen: „Sätze sind die einfachen, selbstän*<br />
digen, in sich abgeschlossenen Leistungseinheiten oder kurz<br />
die Sinneinheiten der Rede.“ Da aber die Sätze zunächst<br />
wohl nur in einem einzigen Wort ihren Ausdruck finden, so<br />
steht hinsichtlich der sprachlichen Form das Wort am An*<br />
fang der Entwicklung.<br />
Für die weitere Entwicklung der Wörter geben uns die beim Kinde<br />
beliebten, oft sehr treffenden und originellen Zusammensetzungen<br />
einen Fingerzeig. So bezeichnet ein Kind namens Hilda mit „mamabäh“<br />
ein altes und mit „ilda-bäh“ ein junges Schaf. Die Gleichheit<br />
der Wortformen bestimmter Gruppen versteht man aus der schon oben<br />
(S. 249) erwähnten Verselbständigung und Loslösung des Wortschemas.<br />
Dieser Prozeß offenbart sich beim Kinde, wenn es Wörter bildet wie<br />
„mappler“ (für einen Boten mit der Mappe), „die rauche" (Zigarre),<br />
die „summe“ (Biene), oder die Komparative „güter“, „vieler“, „hocher“,<br />
die es gewiß nicht von den Erwachsenen gehört hat.<br />
Endlich ist das Problem der Sprachänderung zu nennen,<br />
und zwar der Wortlaut- wie der Bedeutungsänderung, insofern beide<br />
nicht durch äußere Bedingungen wie das Zusammentreffen mit anderssprachigen<br />
Völkern zu erklären sind. Der Lautwandel kann sich auf<br />
alle Teile des Wortes erstrecken, auf die Vokale, Konsonanten, die<br />
Quantitäten, Tonhöhen und Akzente und endlich auf die Wortmelodie.<br />
Vorerst können wir jedoch nur auf einige psychologische Gesetzmäßigkeiten<br />
hinweisen, die bei der Lautveränderung mitspielen. Die Perseveration<br />
der Vokale, die sogar bei der Wortwahl in der geordneten<br />
Rede zu beobachten ist, wird daran schuld sein, daß in den ural-altaischen<br />
Sprachen das Suffix denselben Vokal annimmt wie die Stamm-