Klinoskop 3/2010 - Klinikum Chemnitz
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„Stücke von Yasmina Reza sind kleingeistiges Bürgertum“<br />
Über Castorf, Zadek und Stein, Sehnsucht und<br />
Liebe, Alleinsein und sieben Jahre in <strong>Chemnitz</strong> –<br />
die 33 Fragen mit Michael Thalheimer<br />
<strong>Klinoskop</strong> stellt in jeder Ausgabe die 33<br />
Fragen an einen prominenten Zeitgenossen.<br />
Unsere ironisch wie gleichermaßen<br />
skeptisch angelegte Reihe wandelt auf<br />
den Spuren des legendären (und längst<br />
eingestellten) Interview-Kults 100 Fragen<br />
an…, den einst Moritz von Uslar für das<br />
Magazin der Süddeutschen Zeitung prägte.<br />
Wir beschränken uns auf das Drittel, gefragt<br />
bleiben wie beim Original prägnante<br />
Antworten – gern überraschend, cool und<br />
streitbar. Und man darf ausnahmsweise<br />
auch mit „Weiter.“ antworten.<br />
Paris kann sehr kalt sein, seinen Charme<br />
hat es dennoch nahezu in jedem Viertel,<br />
um die der Tourismus einen Bogen macht.<br />
Wir sehen Michael Thalheimer im Café Des<br />
Banques, der etwas in Eile ist. Gleich nebenan<br />
laufen die Proben im Théâtre National<br />
de la Colline für seine aktuelle Inszenierung<br />
„Kampf des Negers und der Hunde“,<br />
ein Ort, an dem noch wenige Wochen zuvor<br />
Frankreichs Schauspielstarschönheit Emmanuelle<br />
Béart in Albert Camus’ „Gerechten“<br />
auf der Bühne stand.<br />
Warum machen Sie dieses Stück, welche<br />
Intentionen hatten Sie bei Ihrer Inszenierung?<br />
– Fragenunsinn dieser Art konnte<br />
man Thalheimer schon vor 13 Jahren, als er<br />
das erste Mal – seinerzeit am <strong>Chemnitz</strong>er<br />
Schauspielhaus – inszeniert hatte, nicht<br />
mehr zumuten. Inzwischen gilt er als der<br />
wichtigste Theaterregisseur seiner Generation<br />
im deutschsprachigen Raum. Heute<br />
ist Thalheimer nach Erfolgen an den großen<br />
Bühnen in Berlin, Dresden, Frankfurt/M.,<br />
Hamburg, Leipzig oder Stuttgart auch<br />
Deutschlands cooler Export an die Spitzenbühnen<br />
Europas wie dem Dramaten in<br />
Stockholm. Es ist klar, dass es ein Gespräch<br />
über Leben und Alleinsein, Sehnsüchte und<br />
sinnlose Hoffnungen werden wird, über Vergangenheit<br />
und die Rollenspiele am Theater.<br />
Thalheimer bestellt beim Maître noch<br />
schnell ein Filet Mignon, es folgt die rote<br />
Gauloise, es kann losgehen.<br />
Warum wird im Theater immer den Leuten<br />
nachgetrauert, die eigentlich nichts von<br />
Belang gemacht haben, was man besonders<br />
merkt, wenn sie weg sind?<br />
Das stört mich gar nicht so sehr. Mich stört<br />
viel mehr, dass man Leute wie Zadek und<br />
Stein, die wirklich was geleistet haben,<br />
nur würdigt, wenn man parallel die Gegenwart<br />
missbraucht. Meistens werden Zadek<br />
und Stein gewürdigt, indem man sagt, die<br />
waren ganz toll und viel besser, und das,<br />
was heute stattfindet, habe im Vergleich zu<br />
damals keinen Wert mehr. Dabei hat man<br />
dann vergessen, dass Größen wie Stein in<br />
ihren Anfängen auch gegen das Establishment,<br />
gegen die Tradition angegangen<br />
sind, dass sie mal die jungen Wilden waren.<br />
– Das andere liegt, so glaube ich, in der<br />
Natur der Sache: Wenn etwas aufhört, auch<br />
wenn es nicht von Belang war, schlägt man<br />
nicht noch mal rein, man ist froh, dass es<br />
vorbei ist; man lobt das dann eher, als dass<br />
man sich noch mal aufregt – das wäre die<br />
Sache nicht wert.<br />
Santiago Sierra hat Westeuropa einen<br />
überdimensionalen sozialen Themenpark<br />
genannt, was man im Grunde nicht bestreiten<br />
kann. Auch ein Teil des deutschen<br />
Theaters scheint sich einen solchen<br />
Themenpark geschaffen zu haben …<br />
Ich glaube, dass das Theater immer wieder,<br />
in jeder Zeit aufpassen muss, nicht<br />
so selbstreferentiell zu sein. Dass sich das<br />
Theater nur noch um sich dreht und die Realität<br />
draußen gelassen wird, ist etwas, das<br />
man durchaus bemängeln kann. Aber zum<br />
Theater gehören eben nicht nur die Schauspieler,<br />
Regie, Intendanz, Dramaturgie,<br />
sondern auch das Umfeld des Theater wie<br />
die Kritik, die sich scheinbar nur noch um<br />
sich selbst dreht.<br />
Was will der Bürger von der Realität wissen<br />
– und lässt er sich das über das Theater<br />
mitteilen?<br />
Glaub’ ich nicht, weil sich der normale Bürger<br />
doch das Vergnügen sucht und das der<br />
Grund ist, warum er sich die Eintrittskarte<br />
kauft. Aber ich denke, dass Zuschauer viel<br />
belastbarer sind, was Realitäten betrifft,<br />
als man das gemeinhin annimmt. Das ist<br />
die Erfahrung, die ich mache, nicht nur in<br />
Deutschland, auch im Ausland. Sie sind<br />
durchaus bereit, einen Diskurs, den das<br />
Theater auslöst, mitzugehen.<br />
Man hat Ihnen als Umschreibung des<br />
Regiestars in den zurückliegenden Jahren<br />
alle Plattitüden verliehen, die denkbar sind<br />
– bis hin zum „König des Theaters“. Es gibt<br />
Michael Thalheimer, Café Des Banques,<br />
20. Arrondissement von Paris, Mai <strong>2010</strong>. Foto: kr<br />
Phasen, wo man das genießt…<br />
Ja… Aber der König ist schnell aus der<br />
Schublade rausgeholt, und dann wird die<br />
Schublade wieder zugemacht.<br />
Wo ist der Punkt, an dem man beginnt, die<br />
Königsrolle zu hassen?<br />
Man beginnt es dann zu hassen, wenn die<br />
Leute nicht mehr genau zuhören und hinschauen,<br />
wenn sie mit vorgefassten Meinungen<br />
in Theaterabende gehen, weil sie<br />
glauben zu wissen, was sie erwartet.<br />
Können die Grotesken der Gegenwartspolitik<br />
überhaupt im deutschen High-End-<br />
Theater reflektiert werden?<br />
Das Theater ist per se politisch. Um auf die<br />
Aktualität politisch zu reagieren, ist das<br />
Kabarett wohl geeigneter als das Schauspiel.<br />
Man versucht im Theater einfach<br />
größere Weltbilder und Themen, die allein<br />
den Menschen zum Gegenstand haben,<br />
zu bearbeiten. Es macht nicht unbedingt<br />
Sinn, sich acht Wochen mit Schauspielern<br />
zu treffen und sich mit diesem Unsinn zu<br />
beschäftigen.<br />
Wenn Theaterleute in der Kantine sitzen,<br />
prahlen sie gern und schimpfen auf die<br />
unmöglichen Verhältnisse am Haus. Wenn<br />
sich dann mal die Möglichkeit auftut, abzurechnen,<br />
halten sie den Mund. Warum?<br />
P e r s o n e n & Fa k t e n<br />
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