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Die Geschichte des Vereins<br />
Die Zeit seiner Entstehung<br />
1896 – dieses Jahr liegt inmitten einer Epoche, von der wir nur allzu gerne als guter alter<br />
Zeit sprechen; in Wirklichkeit aber war sie nur gut für jene, für die alle Zeiten gut sind.<br />
Für die Masse der Bevölkerung gerade in Rheinau, einem von der Industrie geprägten<br />
Vorort, war sie bestimmt durch Lebensumstände, die sich niemand zurückwünschen<br />
kann.<br />
In Deutschland regierte Kaiser Wilhelm II. mit einem – wie er es nannte – „persönlichen<br />
Regiment“. Der Monarch und nicht das Parlament bestimmte die Regierung. In Preußen,<br />
dem größten Teilstaat des Kaiserreiches, galt immer noch das Dreiklassenwahlrecht; der<br />
Wert einer Stimme, ja der Wert des Menschen schlechthin, bemaß sich nach seinem<br />
Stand.<br />
Die Lage des zahlenmäßig größten Teils der Bevölkerung war schlecht. Die durchschnittliche<br />
Lebenserwartung lag bei weit unter 60 <strong>Jahre</strong>n. Die ökologischen Bedingungen<br />
waren verheerend: Aus den Schornsteinen der Rheinauer Chemiefabriken quollen<br />
die giftigen Rauchschwaden völlig ungehemmt, die Abwässer der Mietshäuser flossen<br />
ungereinigt in den Rhein. Die Mehrheit der Menschen lebte ohne Bad oder eigenes WC<br />
gedrängt in kleinen Wohnungen, von denen uns manche alten Häuser in der Stengelhofstraße<br />
oder dem Dänischen Tisch noch einen Eindruck vermitteln können.<br />
Die oftmals körperliche Arbeit machte die Menschen krank, ja kaputt; der Arbeitstag<br />
betrug 16 Stunden für einen Lohn, der kaum für das Nötigste reichte. Nahezu sämtliche<br />
Wege mussten ungeachtet ihrer Länge zu Fuß zurückgelegt werden; die Bahnfahrkarte<br />
war ein Luxus, ein eigenes Exemplar des erst zehn <strong>Jahre</strong> zuvor von Carl Benz in Mannheim<br />
erfundenen Autos ein völlig unerfüllbarer Traum. An Urlaubsreisen, gar ins Ausland,<br />
war nicht zu denken, schon deshalb nicht, weil es noch keinen bezahlten Urlaub<br />
gab.<br />
Auch Freizeitvergnügen gab es schon deshalb kaum, weil es kaum Freizeit gab. Allenfalls<br />
sonntags ging man im Sommer an den Flussufern der Brühler Kollerinsel schwimmen<br />
oder zur Kerwe-Zeit zu Volksfesten und Jahrmärkten, auf denen Grimassenschneider,<br />
Feuerschlucker und Damen ohne Unterleib ewig denkwürdige Sensationen bildeten.<br />
Ansonsten verbrachten viele Arbeiter die Abende, sofern sie nicht ohnehin sofort erschöpft<br />
zu Bett sanken, in den Kneipen, von denen es damals auch auf der Rheinau noch<br />
unzählige gab.<br />
Kino oder gar Fernseher gab es noch nicht, ebenso wenig wie Radio oder Plattenspieler.<br />
Wer Musik liebte und genießen wollte – und welcher Mensch hätte nicht dieses urmenschliche<br />
Bedürfnis gehabt –, der musste sie selber machen. Der Gesangverein bot<br />
sich dafür an, bot darüber hinaus Geselligkeit, ja Heimat gerade für den Arbeiter, der<br />
sich aus der Gesellschaft des Kaiserreiches oftmals ausgegrenzt fühlte. Und so war es nur<br />
eine Frage der Zeit, bis auch unter den Menschen in dem seit 1872 entstehenden Industrieort<br />
Rheinau der Wunsch nach Gründung eines Gesangvereins aufkam.