Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
77<br />
der Tschechoslowakei, Polen, England, Russland und Deutschland – noch etwas unsicher<br />
zuweilen, aber mit sehr viel Engagement. Der Applaus des Publikums zeigte denn auch,<br />
dass der Verein damit auf dem richtigen Weg war.<br />
Mittelfristig wollte Lucia Lewczuk die Jugendgruppe zu einem richtigen Jugendchor<br />
ausbauen. Dass dies am Ende nicht geklappt hat, lag nicht an ihr und auch nicht an den<br />
Jugendlichen, sondern an manchen Sturköpfen unter den Älteren im Verein, die mit ihrer<br />
Unduldsamkeit den Jugendlichen ihr Engagement verleideten und deren in diesem Alter<br />
ohnehin schwer aufrecht zu erhaltendes Interesse erlahmen ließen.<br />
Über zehn <strong>Jahre</strong> später startete Lucia Lewczuk einen neuen Versuch. Im Vorfeld der<br />
Vereins-Weihnachtsfeier am 15. Dezember 2002 wurden Eltern und Großeltern angesprochen,<br />
ob ihre Kinder und Enkel bei dieser Veranstaltung einen musikalischen Beitrag<br />
leisten könnten. Die Resonanz auf diese Initiative war verblüffend. Sechs Wochen lang<br />
probten die Kleinen mit großer Begeisterung und überredeten sogar noch ihre Mütter,<br />
sich zu beteiligen. Und siehe da: Von sich aus fragten die Kinder bereits kurz nach diesem<br />
Auftritt, wann wieder geprobt wird.<br />
Beim Frühlingsball zu ihrem 20. Dirigenten-Jubiläum im Mai 2003 traten die Kleinen<br />
mit ihren Müttern noch einmal auf und begeisterten mit ihrer erfrischenden Fröhlichkeit<br />
das Publikum. Eine auch nur mittelfristig bestehende Formation ließ sich daraus jedoch<br />
nicht erhalten.<br />
Damit bewahrheitete sich erneut die Erkenntnis, dass es nur unter optimalen Umständen<br />
möglich ist, Kinder bzw. Jugendliche nach Eintritt in die Pubertät in einem Chor zu<br />
halten. Auch der <strong>MGV</strong> 1896 Rheinau muss im <strong>120</strong>. Jahr seines Bestehens der bitteren Erkenntnis<br />
ins Auge sehen, dass in der individualisierten Freizeitgesellschaft des 21. Jahrhunderts,<br />
erst recht in einer Großstadt, die Chancen für die Existenz eines Kinder- oder<br />
gar Jugendchors ausgesprochen gering und Jugendliche für einen traditionellen Gesangverein<br />
nicht zu gewinnen sind.<br />
Der Gießener Musikwissenschaftler Martin Gärtner fasste die Situation und ihre Gründe<br />
treffend zusammen: „Kein Mensch braucht heute der Bildung wegen in den Verein zu gehen;<br />
wer Musik liebt, kann sich diesen Wunsch per Knopfdruck in vielfältigster Weise erfüllen;<br />
wer Unterhaltung sucht, ist nicht auf die Hilfe des Vereins angewiesen, sondern er findet ein<br />
reichhaltiges Angebot kommerzieller Veranstalter; die Mobilität, die das Auto schenkt, ermöglicht<br />
es, auch weit über den Wohnort hinaus Angebote zur Freizeitgestaltung zu nutzen;<br />
trotz ständig reduzierter Arbeitszeit ist Freizeit – im Sinne von verfügbarer Zeit – bei vielen<br />
Mangelware. Schon Kinder beklagen vielfach die Fülle von Terminen, die von Schule, Musikschule,<br />
Sportverein und Eltern bestimmt werden. In den Familien spielt Tradition keine Rolle<br />
mehr. Das Sprichwort „Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen“ hat nicht nur<br />
für die Gesangvereine seine Bedeutung weitgehend verloren.“