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20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin

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Meinung<br />

Jan Fleischhauer <strong>Der</strong> schwarze Kanal<br />

Mit Rechten leben<br />

Ich wünschte, Fritz Teufel<br />

wäre zurück. Ich<br />

hätte nie gedacht,<br />

dass ich die Achtundsechziger<br />

einmal vermissen<br />

würde, aber<br />

so ist es. Für alle, die<br />

nach 1980 geboren wurden<br />

und nicht wissen, von<br />

wem ich rede: Fritz Teufel war Mitbegründer<br />

der Kommune 1, einer der Keimzellen<br />

der Studentenbewegung, und Erfinder der<br />

„Spaßguerilla“, die vor 50 Jahren durch ihre<br />

Provokationen die Zeitgenossen in Atem<br />

hielt. Berühmt wurde Teufel durch einen<br />

Auftritt in einer Talkshow, bei dem er eine<br />

Pistole gegen den Finanzminister richtete.<br />

Es war zum Glück nur eine Wasserpistole.<br />

Wie ich auf Teufel komme? Ich war vergangene<br />

Woche auf der Buchmesse in<br />

Frankfurt. Über 7000 Verlage hatten sich<br />

angemeldet. Salman Rushdie war da, Dan<br />

Brown, Margaret Atwood. Aber das eigentliche<br />

Thema der Messe war der Auftritt des<br />

Antaios Verlags, eines Kleinstverlags aus<br />

Sachsen-Anhalt, der sich auf rechte Erweckungsliteratur<br />

spezialisiert hat.<br />

Am ersten Messetag rückten mehrere<br />

Mitglieder des Börsenvereins an und hielten<br />

Plakate gegen „Rassismus“ hoch. <strong>Der</strong><br />

Frankfurter Oberbürgermeister verteilte<br />

vor dem Stand Flyer, die für die Aktion<br />

„Mut – Mutiger – Mund auf“ warben. Eine<br />

Lesung endete im Tumult, als Demonstranten<br />

zu schreien anfingen.<br />

Mich erinnerten die Protestler an Nonnen,<br />

die sich vor Kinos aufstellen, in denen<br />

unzüchtige Filme gezeigt werden. Selbst<br />

gemalte Plakate, die man in die Höhe reckt,<br />

Kittihawk<br />

um das Böse zu vertreiben, und wenn einem<br />

gar nichts mehr einfällt, fängt man zu<br />

kreischen an? Wenn ich ein Linker wäre,<br />

würde ich mich schämen, ehrlich.<br />

Vielleicht ist es unvermeidlich, dass eine<br />

Bewegung an Agilität einbüßt, wenn sie in<br />

die Jahre kommt. Man kann sich auch geistig<br />

einen Bauchansatz zulegen, wie sich<br />

zeigt. Wer zu lange an der Macht ist, gewöhnt<br />

sich daran, dass er das Sagen hat,<br />

das macht träge.<br />

Die Wahrheit ist, dass die Leute vom<br />

Antaios Verlag mehr von Fritz Teufel und<br />

der Spaßguerilla gelernt haben als die<br />

kreuzbraven Gestalten, die ihm und seinen<br />

Genossen politisch nachfolgten. Heute sind<br />

es die Rechten, die mit ihren Provokationen<br />

die Öffentlichkeit aufschrecken. Dabei<br />

reicht oft schon ein Wort, und alle drum<br />

herum fallen in Ohnmacht oder rufen vor<br />

Schreck „Nazi, Nazi“.<br />

Wenn man keine echten Nazis zur Hand<br />

hat, nimmt man eingebildete. Am Samstag<br />

machte die Nachricht die Runde, der Frankfurter<br />

Stadtverordnete Nico Wehnemann<br />

von der Spaßpartei „Die Partei“ sei auf der<br />

Messe zusammengeschlagen worden, weil<br />

er gegen die Büchernazis protestiert habe.<br />

Wie sich herausstellte, war Wehnemann<br />

beim Versuch, eine Absperrung zu durchbrechen,<br />

von einem Sicherheitsmann zu<br />

Boden gebracht worden. Nicht einmal die<br />

Wasserpistole, mit der man früher Finanzminister<br />

erschreckte, funktioniert noch richtig.<br />

Es wird wirklich Zeit, dass der Geist<br />

von Fritz Teufel wieder in die Linke fährt.<br />

An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein,<br />

Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel.<br />

Im Zentrum<br />

der Macht<br />

So gesehen Alle wollen<br />

Bundestagsvizepräsident<br />

werden.<br />

Ich muss zugeben, es gibt in<br />

der Berliner Politik ein Amt,<br />

dessen Bedeutung ich bisher<br />

krass unterschätzt habe: das<br />

des Bundestagsvizepräsidenten.<br />

Ich hatte es immer für<br />

ein ehrenvolle, aber doch<br />

eher zeremonielle Aufgabe<br />

gehalten, als einer von sechs<br />

Stellvertretern des Bundestagspräsidenten<br />

hin und<br />

wieder eine Sitzung des Parlaments<br />

zu leiten. Aber so<br />

kann man sich irren. Diese<br />

Woche hat mir gezeigt, dass<br />

der Job tatsächlich im Zentrum<br />

des Berliner Macht -<br />

pokers steht: heiß begehrt,<br />

leidenschaftlich umkämpft<br />

und ein zentraler Bau stein<br />

im innerparteilichen Posten -<br />

geschacher.<br />

Die FDP zum Beispiel ist<br />

personell eher schwach aufgestellt.<br />

Sie hat genau zwei<br />

Politiker, denen man bisher<br />

ein Spitzenamt in Berlin zutraute.<br />

Und raten Sie mal:<br />

einer von ihnen wird Bundestagsvize.<br />

Das zeigt doch,<br />

welch überragende Bedeutung<br />

Parteichef Christian<br />

Lindner dem Amt beimisst.<br />

Ich hoffe nur, dass Wolfgang<br />

Kubicki das auch so sieht.<br />

Bei der SPD ist es andersrum:<br />

Da gibt es zu viele Spitzenpolitiker<br />

für die paar Posten,<br />

die eine abgewählte Regierungspartei<br />

zu vergeben<br />

hat. Deshalb ist um die Vizepräsidentschaft<br />

ein Wettstreit<br />

entbrannt, wie ihn die Partei<br />

lange nicht mehr erlebt hat.<br />

Es wird eine Kampfkandidatur<br />

dreier Spitzensozis geben.<br />

Drei! Die Schicksalszahl<br />

der Sozialdemokratie, wie<br />

oft konkurrierten drei um<br />

die Macht. Und jetzt: Kanzlerkandidat<br />

wollte keiner<br />

werden, aber Bundestagsvizepräsident,<br />

das wollen sie<br />

alle. Christiane Hoffmann<br />

10 DER SPIEGEL 43 / 2017

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