20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
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Kultur<br />
kampf findet nicht mehr statt. Die Wähler<br />
sind viel weniger blöd und verantwortungslos,<br />
als die Medien sie gern schildern. Sie<br />
wissen, dass die Schulden und die Defizite<br />
nicht endlos steigen können. Deshalb bezweifle<br />
ich, dass hinter dem linken Widerstand<br />
noch eine große soziale Kraft steht.<br />
SPIEGEL: Ist die Deutungshoheit endgültig<br />
nach rechts gewandert? Die Figur des engagierten,<br />
radikalen, Feuer spuckenden Intellektuellen<br />
gibt es ja noch in Frankreich.<br />
Houellebecq: Ich kann nicht sagen, ob die<br />
Rechte den Kampf der Ideen gewonnen<br />
hat. Die Medien, die Journalisten stehen<br />
überwiegend noch immer auf der Seite<br />
der Linken. Auf der anderen Seite gab es<br />
aufsehenerregende Bucherfolge rechter<br />
Autoren wie Éric Zemmour über Frankreichs<br />
angeblichen Selbstmord oder Alain<br />
Finkielkraut über die unglückliche Iden -<br />
tität. Die Intellektuellen spielen immer<br />
noch ihre Rolle in Frankreich, aber ihr Typus<br />
verändert sich.<br />
SPIEGEL: Sie begreifen sich nicht als Intellektuellen?<br />
Houellebecq: Nein. Ich bin es objektiv nicht,<br />
weil ich die Kriterien nicht erfülle. Ich leite<br />
keine Verlagsreihe, bin kein bestallter Kolumnist,<br />
habe kein öffentliches Exerzierfeld.<br />
Ich bin nicht Teil des Geschäfts der<br />
Meinungsproduktion.<br />
SPIEGEL: In Ihren Romanen finden sich viele<br />
theoretische Überlegungen wie Essays<br />
zur Geschichte. Sie bringen gern soziologische<br />
und ökonomische Ausführungen in<br />
den Erzählfluss ein.<br />
Houellebecq: Als Schriftsteller bin ich auch<br />
Soziologe und Ökonom. Das ist gut so.<br />
<strong>Der</strong> Roman ist heute das bevorzugte Instrument<br />
der Gesellschaftskritik. Den theoretischen<br />
Essayisten, den Gesellschaftswissenschaften<br />
und der Philosophie ging nach<br />
Denkern wie Bourdieu, Deleuze, <strong>Der</strong>rida,<br />
Foucault der Atem aus. Zurzeit kommt da<br />
nicht viel. Die „French Theory“ hat sich<br />
überlebt. Wenn man mich einen Gesellschaftskritiker<br />
oder einen Soziologen<br />
nennt, meint man es als Kritik an meiner<br />
Erzählkunst, an meinem angeblich literarisch<br />
ungenügenden Stil. Aber ich fasse<br />
das als Kompliment auf. Literatur ohne<br />
Ideen, Stil als reine Kunst ist nicht meine<br />
Sache. Die Verfechter einer puristischen,<br />
schönen, reinen Literatur sind Gaukler,<br />
die keine Wahrheit zu sagen haben. Dem<br />
französischen Roman geht es gegenwärtig<br />
gut, weil er den Kontakt zur Realität der<br />
Gesellschaft und zum konkreten Leben<br />
hält.<br />
SPIEGEL: Französische Autoren werden in<br />
Deutschland gern gelesen. Umgekehrt werden<br />
sehr viel weniger deutsche ins Französische<br />
übersetzt. Inwieweit kennen Sie<br />
die zeitgenössische deutsche Literatur?<br />
Houellebecq: Diese Frage bringt mich in<br />
Verlegenheit. Ich kenne Thomas Bernhard<br />
und Peter Handke, zwei Österreicher übrigens,<br />
und danach nichts mehr. Übersetzungen<br />
sollten in Europa stärker öffentlich<br />
gefördert werden.<br />
SPIEGEL: Damit lässt sich das Interesse des<br />
Publikums nicht erzwingen. Ist den Franzosen<br />
die deutsche Wirklichkeit nach der<br />
Wiedervereinigung einfach zu weit weg?<br />
Houellebecq: Ich gebe den deutschen Autoren<br />
einen guten Rat: Sie sollten sich dem<br />
erotischen Roman zuwenden. Die Deutschen<br />
sind ja Großmeister der privaten<br />
pornografischen Produktion im Internet.<br />
Da befindet sich eine Lücke, die zu füllen<br />
wirklich Aussicht auf Erfolg, auch kommerziellen,<br />
verspricht. Und das meine ich<br />
nur halb im Scherz. Das Interesse in Frankreich<br />
wäre vorhanden.<br />
SPIEGEL: Ihr Thema ist die Schwierigkeit,<br />
wahre Liebe zu finden. Sie sind der literarische<br />
Erforscher der Nöte und Ängste der<br />
Mittelschicht, die um ihren Status in der<br />
Gesellschaft kämpft. Schauen Sie gar nicht<br />
auf die Welt der ganz Reichen und der<br />
ganz Armen?<br />
Houellebecq: Doch, nur kenne ich die untere<br />
Mittelschicht eben am besten. Ich bin<br />
in meinen literarischen Mitteln leider etwas<br />
beschränkter als Balzac, der die ganze<br />
menschliche Komödie abbilden wollte. Ich<br />
habe Hunderte Notizseiten und Aufzeichnungen<br />
über einen Banker angefertigt, der<br />
mir sein Leben erzählte, einen wichtigen<br />
Mann aus der Finanzwelt, der zu meinen<br />
treuen Lesern gehört. Ich habe nichts daraus<br />
gemacht, und ich glaube nicht, dass<br />
ich es noch tun werde.<br />
SPIEGEL: Und was ist mit dem anderen<br />
Ende der sozialen Leiter? Wer befasst sich<br />
mit dem Frankreich von ganz unten?<br />
Houellebecq: Das ist eine Schwäche, davon<br />
gibt es zu wenig in der literarischen Produktion<br />
der Gegenwart. Ich habe schon<br />
seit einiger Zeit das Gefühl, dass der Kriminalroman<br />
auf diesem Gebiet der allgemeinen<br />
Literatur voraus ist. <strong>Der</strong> französische<br />
Krimi ist sehr gut geworden. Früher<br />
hatten seine Autoren eine linke Grundhaltung.<br />
Das hat sich geändert. Die Grenzen<br />
des Genres sind gesprengt. Es gibt inzwischen<br />
sogar Krimis ganz ohne Polizei, man<br />
stelle sich vor. Ich halte das für einen Ausdruck<br />
von geschärftem Realismus: Es gibt<br />
tatsächlich Zonen, aus denen die Ordnungsmacht<br />
praktisch verschwunden ist.<br />
„Meine Intuition<br />
befindet sich<br />
gewissermaßen auf<br />
der Suche unterhalb<br />
des Vernünftigen.“<br />
SPIEGEL: Ist Frankreich, in dem der Ausnahmezustand<br />
herrscht, nicht schon fast ein<br />
Polizeistaat?<br />
Houellebecq: Da fragen Sie mal die Polizisten.<br />
Ich habe mit vielen gesprochen, weil<br />
ich nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift<br />
„Charlie Hebdo“ im Januar 2015 ein<br />
Jahr lang Polizeischutz genoss. Die Polizei<br />
ist hochgradig unzufrieden, ihre Mittel und<br />
ihre Ausrüstung sind unzulänglich, sie hat<br />
den Eindruck, dass der Staat teilweise kapituliert<br />
und ganze Territorien aufgegeben hat.<br />
Meiner Meinung nach hat sie nicht unrecht.<br />
SPIEGEL: <strong>Der</strong> französische Roman war mit<br />
Balzac und Zola schon im 19. Jahrhundert<br />
fest in der sozialen Realität verankert. Erhalten<br />
Sie diese Tradition aufrecht?<br />
Houellebecq: Die Messlatte liegt sehr hoch.<br />
Das ist ein Ruhmeskapitel der französischen<br />
Literaturgeschichte. Balzac wollte<br />
wirklich die ganze Gesellschaft abbilden,<br />
und er hat es beinahe geschafft. Zola führte<br />
die Recherche, die Dokumentation in den<br />
Roman ein. Und Maupassant befasste sich<br />
auch mit Menschen, die ganz unten angekommen<br />
waren.<br />
SPIEGEL: Fehlt heute dagegen ein Marcel<br />
Proust, der sich den höheren Ständen widmete?<br />
Houellebecq: Proust gelang eine feine Gesellschaftsanalyse.<br />
Was die Leser bei ihm<br />
lieben, ist die raffinierte Boshaftigkeit, mit<br />
der er die Zusammenkünfte und Konversationen<br />
der sogenannten besseren Kreise<br />
beschreibt. Bei ihm steht nicht die menschliche,<br />
sondern die mondäne Komödie im<br />
Mittelpunkt.<br />
SPIEGEL: Neben Ihnen beschäftigt sich eine<br />
Erfolgsschriftstellerin mit den Nöten der<br />
Mittelschicht: Yasmina Reza. Teilen Sie mit<br />
ihr die Vorliebe für die Tragödien der Banalität?<br />
Houellebecq: Wir schätzen einander sehr.<br />
Aber meine Personen sind noch kaputter.<br />
Sie beschreibt Paare, die sich bekriegen<br />
und zerreißen. Bei mir gibt es nicht einmal<br />
mehr dafür genug Leidenschaft. Ich bin<br />
der Autor der totalen Schlaffheit.<br />
SPIEGEL: Dennoch glauben Sie an die Möglichkeit<br />
der Liebe?<br />
Houellebecq: Ja. Ich kann mich mit der Idee<br />
der Unbeständigkeit, der Flüchtigkeit nicht<br />
abfinden. Darin liegt ein heroischer Pessimismus.<br />
Man sollte sich nicht zu viele<br />
Illusionen über das Leben machen. Das<br />
Schwinden, das Überwinden aller Illusionen<br />
ist nicht unbedingt etwas Schlimmes,<br />
es ist im Gegenteil ein gesunder Pessimismus,<br />
der allerdings eine Portion Heldenmut<br />
erfordert. Das habe ich bei Schopenhauer<br />
gefunden. Philosophisch ist diese Haltung<br />
nicht weit vom Buddhismus entfernt.<br />
SPIEGEL: <strong>Der</strong> auch für Sie, wie für Schopenhauer,<br />
eine Verlockung war?<br />
Houellebecq: Ja, aber es war nur ein Moment,<br />
der vorübergegangen ist. Ich glaube, ich<br />
bin zu romantisch, um buddhistisch zu sein.<br />
DER SPIEGEL 43 / 2017<br />
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