20171020-Der_Spiegel_Nachrichtenmagazin
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Kultur<br />
deckt, kein Soldat schoss. Drei Schleuser<br />
begleiteten sie. Irgendwann zeigten sie auf<br />
einen hellen Punkt, seht ihr, das ist die<br />
Türkei. Und Hamza sprach mit seinem<br />
sechsjährigen Sohn: „Schau, hinter uns ist<br />
es dunkel, das ist Syrien, und da vorn gibt<br />
es viele Lichter und Plätze, an denen du<br />
spielen kannst. Aber dazwischen lauern<br />
Soldaten, und deshalb müssen wir jetzt<br />
ganz still sein, okay?“ Alles, was sie hatten,<br />
trugen sie in zwei Koffern bei sich, vor allem<br />
Sachen für die Kinder und Fotoalben<br />
mit den Bildern aus glücklichen Tagen.<br />
So kamen sie nach Buchholz, Nordheide.<br />
Hier, in dem geruhsamen Städtchen<br />
im Hamburger Speckgürtel, lebt Hamza<br />
nun seit drei Jahren. Zurzeit ist er der einzige<br />
Dichter, den Buchholz hat.<br />
Ein Lyriker, sagt er, schreibt über das<br />
Leiden der Menschen. „Aber ich weiß<br />
nicht, leiden die Menschen hier?“ Er ist<br />
über die Friedhöfe gegangen und hat die<br />
Gräber studiert. Viele Tote sind älter als<br />
achtzig Jahre alt geworden. Das hat ihn<br />
beeindruckt, in Syrien sterben viele jung –<br />
im Krieg, durch Terror, im Gefängnis.<br />
Hamza hat Gedichte über die Folter geschrieben,<br />
über Wände, an denen das Blut<br />
klebt, und Kupferdraht, der mit Strom zum<br />
Werkzeug des Bösen wird. Als Anwalt vertrat<br />
er Syrer, die 20 Jahre lang im Gefängnis<br />
saßen, verurteilt in Schnellprozessen,<br />
„völlig unfaire Verfahren“, sagt Hamza. Einer<br />
seiner Mandanten sei anders als üblich<br />
ohne Augenbinde vor ein Militärgericht gebracht<br />
worden. „Er sollte seine Schwester<br />
sehen, die nackt war“, erzählt Hamza. Sie<br />
hätten gedroht, sie zu vergewaltigen, wenn<br />
er nicht alles zugibt, was sie ihm vorwarfen.<br />
Das Grauen ist weit weg, doch er trägt<br />
die Bilder in sich, wenn er jetzt über friedliche<br />
Plätze geht in Buchholz, er sieht die<br />
Menschen noch vor sich, die von Kugeln<br />
oder Bomben zerfetzt vor ihren Häusern<br />
lagen. Die Herbstsonne trocknet den Regen<br />
von der Straße, er trinkt Espresso im Café<br />
Paradies, wo es besonders gute Schokoladentorte<br />
gibt. Am Nebentisch prosten sich<br />
zwei ältere Damen mit Sekt zu. Es ist elf<br />
Uhr vormittags. „Ich bin einsam/ Ich habe<br />
kein Land mehr/ Meine Nachbarin ist einsam<br />
geworden/ Sie hat keinen Hund mehr.“<br />
Meist schreibt Hamza nachts, wenn seine<br />
beiden kleinen Söhne schlafen. Das Gedicht<br />
mit dem Hund trägt er fast immer<br />
auf den Lesungen vor, zu denen er eingeladen<br />
wird, nach Berlin und Heidelberg,<br />
nach München und Mainz. Ein Netzwerk<br />
von Kulturstiftungen, Literaturhäusern<br />
und Initiativen unterstützt die Exilschriftsteller<br />
in Deutschland, verhilft ihnen zu<br />
Auftritten, bringt sie mit deutschen Autoren<br />
zusammen, übersetzt ihre Werke und<br />
veröffentlicht sie in Anthologien*.<br />
* „Weg sein – hier sein. Texte aus Deutschland“. Seces -<br />
sion; 256 Seiten; 24 Euro.<br />
Kürzlich kam nach einer Lesung in<br />
Frankfurt eine begeisterte Zuhörerin zu<br />
ihm, er habe ihre Verzweiflung so gut getroffen.<br />
Ihr Hund sei gestorben, und das<br />
sei schlimmer als bei jedem Mann, den sie<br />
verloren habe. Ohne Mann komme sie<br />
zurecht, aber ohne Hund? Sie fing an zu<br />
weinen, und Aref Hamza sagte: Sorry.<br />
Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen<br />
sollen.<br />
Im Juni trat er im Forum der Hamburger<br />
Körber-Stiftung zusammen mit Lina Atfah<br />
auf, auch sie hält häufig Lesungen. Sie hat<br />
honiggetränkte Baklavas mitgebracht, die<br />
sie im Publikum verteilt. „Ich möchte etwas<br />
mit Ihnen feiern“, erklärt sie, „heute<br />
ist mein Vater aus der Haft entlassen worden!“<br />
Sie ist aufgeregt, sie lacht und wirft<br />
ihre langen Haare nach hinten. Dann setzt<br />
sie zur Saghrada an, dem Freudentriller<br />
arabischer Frauen. Das Publikum klatscht.<br />
Sie liest: „Ich werde diese Länder, die uns<br />
Zuflucht gewährten, fragen:/ Wer bin ich?“<br />
Nachts hat sie Albträume, immer die<br />
gleichen. Sie hat ihren Mann verloren, sie<br />
sucht ihn überall, in Straßen, in Häusern,<br />
doch alle sind leer, kein Mensch außer ihr.<br />
Dann träumt sie, dass ihre Heimatstadt im<br />
Wasser versinkt, und sie schwimmt und<br />
schwimmt, schnappt nach Luft, um nicht<br />
zu ertrinken, und ruft nach ihrem Vater.<br />
Er ist ihr großer Kummer. Als Einziger<br />
der Familie ist er noch in Syrien, er gilt als<br />
Regimegegner und durfte bisher nicht ausreisen.<br />
Er war Agraringenieur im Staatsdienst.<br />
„Sie haben ihn entlassen, alle Pensionsansprüche<br />
gestrichen“, sagt Atfah. Im<br />
Mai wurde er festgenommen, blieb über<br />
einen Monat im Gefängnis. Atfah war verrückt<br />
vor Sorge, er ist herzkrank, braucht<br />
Tabletten. Jeden Tag telefoniert sie lange<br />
mit ihm, auch jetzt ruft er an, das Bild<br />
eines schmalen, dunkelhaarigen Mannes<br />
erscheint auf dem Smartphone-Display.<br />
„Baba, kaif halak, Habibi?“ ruft sie, „Papa,<br />
mein Liebling, wie geht es dir?“<br />
Lina war zehn Jahre alt, als ihr ein Nachbarsmädchen<br />
verriet, dass man beim Referendum<br />
Süßigkeiten bekomme für jeden<br />
Ausweis, der als Jastimme eingetragen werden<br />
kann. Es war Februar 1999, Präsident<br />
Hafis al-Assad ließ pro forma über seine<br />
fünfte Amtszeit abstimmen.<br />
Lina sammelte alle Ausweise im Haus<br />
ein, die ihrer Eltern, ihrer Großeltern, ihres<br />
Onkels und selbst die der Tanten, die schon<br />
lange tot waren. Zwölf Ausweise gab sie<br />
im Wahlbüro ab, doch sie bekam nur sieben<br />
Baklavas. Sie fühlte sich betrogen und<br />
erzählte alles ihrem Großvater. <strong>Der</strong> sagte:<br />
Weißt du, dass du meine Stimme dem<br />
Mann verkauft hast, der mich ins Gefängnis<br />
geworfen hat? Zwölf Jahre lang war er in<br />
Haft. Sie brach in Tränen aus. „Ich habe<br />
mit einem Schlag verstanden“, sagt sie,<br />
„wie das Assad-Regime funktioniert.“<br />
An einem heißen Tag im Sommer 2013<br />
wurde Aref Hamza klar, dass sie in Syrien<br />
keine Zukunft mehr hatten. In der Stadt<br />
tobten Kämpfe zwischen den kurdischen<br />
Milizen und Regierungstruppen. Häufig<br />
gab es keinen Strom, kein Wasser, die Kinder<br />
hatten keine Schule. Sie kauerten in<br />
der Küche auf dem Boden, die Kinder<br />
weinten, stopften sich die Finger in die Ohren.<br />
„Wir hatten solche Angst“, sagt Hamza,<br />
„immerzu.“ Als ein Panzer in die Straße<br />
rollte, flohen sie in einen Park, und sein<br />
ältester Sohn fragte: „Papa, müssen wir<br />
jetzt sterben?“<br />
Seine 3000 Bücher musste Hamza in Syrien<br />
zurücklassen, darunter viele deutsche<br />
Klassiker, Thomas Mann, Bertolt Brecht,<br />
Hermann Hesse, Günter Grass, Schopenhauer<br />
und Nietzsche, er hat sie alle gelesen,<br />
auf Arabisch. Nur je eine Ausgabe<br />
Dichterin Atfah bei Lesung in Heidelberg: „Ich hatte Glück – hatte ich Glück?“<br />
PETER JUELICH / DER SPIEGEL<br />
DER SPIEGEL 43 / 2017<br />
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